zien. Sie waren nämlich nicht, wie die meisten anderen Straßburger Architekten,65
bei dem Karlsruher Neugotiker Schäfer ausgebildet, sondern Schüler von Theodor
Fischer in Stuttgart. Er hatte als langjähriger Stadtplaner in München schon seit 1893
die Ideen Sittes in der Praxis vertreten und durch geschwungene Straßenführungen
und versetzte Einmündungen auf unsymmetrisch gestaltete Plätze66 eine künstleri¬
sche Raumwirkung angestrebt. Daß die Initiative zu diesem vornehmlich ästhetisch
motivierten Landesgesetz weitgehend auf einen hohen juristischen Beamten der
Straßburger Stadtverwaltung, den berufsmäßigen Beigeordneten Dr. Heinrich Emerich
zurückging, ist kein bloßer Zufall.67 Schon im Generalvertrag mit der Süddeutschen
Disconto-Gesellschaft hatte Bürgermeister Schwander einen Zwang zur "künstleri¬
schen" Fassadengestaltung durchgesetzt. Sie war von einer städtischen Sachverständi-
gen-Kommission zu überwachen, deren Vorsitz ein anderer Beigeordneter führte, der
Architekt Moritz Eisenlohr, der seit 1909 einer der wenigen Nicht-Juristen an so
hoher Position einer deutschen Verwaltung war. Diese Fassadenkommission68 ent¬
wickelte "Grundsätze für die Ausgestaltung der Fassaden der ’Neuen Straße’", die
stark am damals von Architekten und Heimatschützern wiederentdeckten regionalen
Bauen ausgerichtet waren. Ortstypische Materialien wie der "kräftig rote Vogesen¬
sandstein" (statt des verbotenen blank polierten Marmors oder Granits) und Techni¬
ken wie die "Altstraßburger Schieferdeckung in Fischblasenform" wurden vorgeschrie¬
ben, jede Form auffälliger Werbung war verboten. Die Kommission beaufsichtigte das
alles überaus penibel, bis zur Form der Balkongitter, und sie schreckte auch nicht
davor zurück, bei hartnäckigem Widerstand der Bauherren mehrmals im Namen des
Bürgermeisters das Weiterbauen zu verbieten.
Die Bedeutung der Straßburger Erfahrungen: eine moderne "Obrigkeits-Stadt"
Die zunehmende Komplexität der vielfältigen neuen infrastrukturellen, wirtschaftli¬
chen und sozialen Problemstellungen der Urbanisierung wurde von der Straßburger
Stadtverwaltung stets erkannt und oftmals für ihre Zeit beispielhaft gelöst. Der Weg
dazu wurde immer mehr in der engen Verzahnung der Arbeit von Architekten und
Stadtplanern einerseits, Juristen und Verwaltungsexperten andererseits gesucht und
gefunden. Diese Zusammenarbeit verschiedener "Ressorts", unter der Leitung von
Juristen freilich, war sehr typisch für deutsche Stadtverwaltungen in der Zeit des
65 Gründlicher Überblick bei Denis Durand de Bousingen, L’architecture à Strasbourg de 1903
- 1918, in: Annuaire de la Société des Amis du Vieux-Strasbourg 15(1985), S. 59-80.
66 Den Einfluß des Buches von Sitte zeigten schon vorher die Änderungen in den Planungen
für die Neustadt, als um 1899 der große rechteckig-symmetrische Platz etwa auf halbem Wege
der Schweighäuserstraße in eine unregelmäßige Gestalt aufgelöst wurde (heute Kreuzung der
rue Schweighaeuser und ihrer Verlängerung als rue Trubner mit dem boulevard d’Anvers und
dem boulevard Tauler); vgl. dazu zeitgenössische Pläne, etwa Archives Municipales de Stras¬
bourg, Archives Administratives, Plans de Strasbourg, 7 (etwa 1891) und 14a (etwa 1899).
67 Vgl. Emerich (Anm. 14).
68 Bericht (Anm. 45), S. 13; die Akten über ihre Tätigkeit 1912-1920 in AMS-AM, Div. VI,
59/281; einige Hinweise auch in AMS-AM, Div. V, 12/49.
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