Enteignungsfall fast vereitelt wird".31 Erst ein Dekret von Präsident Lebrun ersetzte
am 8. Aug. 1935 die "jury d’expropriation" in der Fassung des Gesetzes von 1841
durch eine neue "commission arbitrale d’évaluation", unter deren fünf Mitgliedern nur
noch eines die Grundeigentümer vertreten sollte.32
Der heimliche Aufkaufzu Marktbedingungen als Alternative zur Enteignung beim ersten
Abschnitt des "Großen Durchbruchs" ("Grande Percée") seit 1909
Weil das Landesgesetz zur Neuregelung der Enteignung gescheitert war, mußte die
Straßburger Stadtverwaltung einen Ersatz für das wenig taugliche Instrument der
Zwangsenteignung nach dem Gesetz von 1841 finden, als bei ihrem größten inner¬
städtischen Stadtplanungsprojekt Land aufgekauft werden mußte. Ein Slumviertel in
der Altstadt nördlich der Langgasse (heutige Grande Rue), in dem Orth schon 1878
nichts als "winklige, enge Straßen, schlechte, niedrige und sehr verbaute Häuser"33
und sanitäre Gefahren sah, sollte nun endlich saniert werden. Dabei sollte ein "Neuer
Boulevard" oder "Großer Durchbruch" zugleich die Verkehrsanbindung der City an
den Bahnhof verbessern; diese "Grande Percée" umfaßt den heutigen Straßenzug Rue
du 22 Novembre - Rue des Francs-Bourgeois - Rue de la Division Leclerc - Rue de
la 1ère Armée, der erst nach 1945 auf der Grundlage der alten Planung fertiggestellt
wurde. Über die Chancen eines früheren innerstädtischen Durchbruchsprojekts hatte
1885 der Kreisarzt Dr. Krieger - noch durchaus im Blick auf die Erfahrungen in
Frankreich - geurteilt: "Leider stehen der Ausführung so große finanzielle Bedenken
entgegen, daß kaum ein zweiter Haussmann dieselben heben könnte".34 Doch der
Nachfolger Backs als Bürgermeister, Rudolf Schwander, fand tatsächlich einen
anderen Weg als den der befürchteten städtebaulichen Stagnation, wie sie in Paris
und Lyon eingetreten war.
Anstatt eine Enteignung einzuleiten, dadurch alle seine Pläne bekannt zu machen und
noch dazu das Risiko hoher Entschädigungszahlungen einzugehen, ließ Schwander
lieber durch drei "besonders geschäftsgewandte Agenten" heimlich die betroffenen
Innenstadtgrundstücke aufkaufen, was unauffällig gelang. Die meisten Gemeinderats¬
mitglieder hatte Schwander vorher in persönlichen Gesprächen informiert, aber einen
förmlichen Gemeinderatsbeschluß konnte er bis zum Abschluß des Aufkaufs nicht
herbeiführen - denn dann wäre sein Projekt bekannt geworden und die einsetzende
Spekulation hätte die Preise in die Höhe getrieben. Erst am 10. Mai 1907, als der
größte Teil der 31 205 qm fest oder in Anwartschaft erworben war, erwirkte Schwan¬
der den Beschluß des Gemeinderats, daß die Stadt alles benötigte Land von den
31 Schreiben der Abteilung VIb (Conrath) an den Bürgermeister v. 31. Juli 1934, AMS-AM,
Div. I, 107c/27.
32 Ausführlicher zu diesem ganzen Komplex Stefan Fisch: Zur Handhabung des Bau- und
Bodenrechts in Straßburg nach den politischen Umbrüchen von 1870 und 1918, in: Jahrbuch
für europäische Verwaltungsgeschichte 2 (1990), S. 77-102.
33 Orth (Anm. 4), S. 16, 49 und Bildtafel II.
34 Krieger (Anm. 24), S. 113.
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