Full text: Stadtentwicklung im deutsch-französisch-luxemburgischen Grenzraum

Im Prinzip durfte die Stadt Straßburg nun enteignen, aber sie machte dieses Recht in 
den 20 Jahren bis 1903 nur in 20 Fällen vor dem Landgericht geltend. Das lag an 
Unzulänglichkeiten des Verfahrens: Das Landgericht berief nach einer rein formalen 
Prüfung eine "Jury", ein "Geschworenengericht zur Feststellung der Entschädigung" 
aus zwölf Mitgliedern unter Vorsitz eines Richters, die - meist nach einer Ortsbesichti¬ 
gung - über die Höhe der Entschädigung entschied. Da alle Geschworenen grundbe¬ 
sitzende Honoratioren sein mußten und aus dem ganzen Gerichtsbezirk, also vielfach 
auch vom Lande, kamen, legten sie die von der Stadt zu bezahlenden Entschädigun¬ 
gen ziemlich eigentümerfreundlich fest. In den 20 von ihr angestrengten Enteignungs¬ 
fällen zusammen mußte die Stadt Straßburg schließlich 614 671,36 Mark statt der von 
ihr zuerst gebotenen 227 630,49 Mark, also fast das Dreifache bezahlen. 
Wie in Frankreich selbst, wo diese Entschädigungspraxis die Fortführung der "hauss- 
mannisation" in Paris und in der Provinz sehr bald wegen massiver Überschuldung der 
Städte unmöglich gemacht hatte, erwies sich dieses Gesetz auch im Elsaß als unzu¬ 
reichend für die Verfolgung gemeinwohlorientierter Zwecke. Als schließlich nach der 
Jahrhundertwende dem Landesausschuß ein eigenes Landesenteignungsgesetz vorlag, 
griff in die Schlußphase der Beratungen im September 1904 auch der Straßburger 
Gemeinderat mit einer Petition für ein angemesseneres Enteignungsrecht ein.30 
Darin hieß es, obwohl die Stadt stets "eine reichliche, über den gewöhnlichen Wert 
hinausgehende Entschädigung" angeboten habe, seien bisher die von den Jurys 
beschlossenen Beträge doch noch viel höher gewesen. Dadurch sei die Stadt - selbst 
bei wohnungspolitisch wichtigen Vorhaben - schon bei den Verhandlungen im Vorfeld 
der Enteignung "in die Hand der Grundstücksspekulanten gegeben", denn bei einer 
möglichen Enteignung müsse sie noch höhere Kosten befürchten. Ohne "gegen die 
Mitglieder der heute bestehenden Jury den Vorwurf zu erheben, als ob sie bewußt 
pflichtwidrig handelten", schlug der Straßburger Gemeinderat zur Ergänzung des 
Gesetzentwurfes vor, die Jury nur noch zur Hälfte aus der Haus und Grund besitzen¬ 
den Notabeinbourgeoisie zusammenzusetzen. Doch gerade an deren starkem Wider¬ 
stand im Landesausschuß, der noch nicht, wie später der Landtag nach der Landes¬ 
verfassung vom 31.Mai 1911, direkt gewählt war, scheiterte dieser Gesetzentwurf im 
November 1904. 
Die stärker gegen Boden- und Bauspekulation gerichtete Denkweise der deutschen 
Verwaltung lebte in Straßburg in den frühen 30er Jahren unter anderen Vorzeichen 
kurzzeitig noch einmal auf, als Charles Hueber, ein autonomistischer Kommunist, 
Bürgermeister war und eine "Mehrwertsteuer" als Besteuerung des Bodenwertzuwach¬ 
ses ins Auge faßte. Ihm schlug damals ein städtischer Jurist vor, in Zukunft beim 
Ortstermin der Enteignungsjury möglichst wenig vom geplanten Projekt erkennen zu 
lassen, weil "erfahrungsgemäß zu erwarten [steht], daß die Geschworenen den sichtbar 
werdenden ’Mehrwert’ bereits dem Enteigneten zu Gute kommen lassen, wodurch die 
Interessen der Stadt wesentlich nachteilig beeinflußt und deren Wahrnehmung im 
30 Petition des Straßburger Gemeinderats an den Landesausschuß v. 28. Sept. 1904, AMS-AM, 
Div. I, 52/202. 
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