Max Pfister
Über den Zusammenhang von Bistumsgrenzen und
Sprachgrenzen in Frankreich, der Schweiz und dem Alpenraum
Unsere Problematik wurde erstmals behandelt von Heinrich Morf in einer Akade¬
mieschrift aus dem Jahre 1911: „Zur sprachlichen Gliederung Frankreichs“1. Bei der
Besprechung der Lautgrenze zwischen ve und vä (ALF 1369), die Pikardisch von
Normannisch trennt, schreibt Morf [S. 6]: „Besonderes Interesse erweckt zunächst
das pikardisch-normandische Stück dieser scharfen Lautgrenze, vom Meer bis vor
Pontoise (südlich von P. 246). Sie verläuft völlig in der Richtung der Grenze, die das
Bistum Rouen von den Bistümern Amiens und Beauvais scheidet. Hier scheint also
die Bistumsgrenze zugleich Lautgrenze zu sein. Dieser Umstand sowie die unerschüt¬
terte Schärfe dieser Grenze läßt auf ihr hohes Alter schließen. Und wirklich scheint
in der Normandie schon im 12. Jh. die Umbildung des e zu ä begonnen zu haben,
denn bei normandischen Dichtern jener Zeit begegnen wir bekanntlich nicht selten
Reimverbindungen, die sich durch den annähernden Gleichklang der beiden Nasal¬
vokale erklären.“
Morf hat in seiner Untersuchung wichtige Isophonenbündel untersucht, die das
Pikardische vom Französischen trennen. Die Ursache dieser Mundartgrenze glaubte
er in der alten kirchlichen Einteilung des Raumes zu entdecken. Die West-, Süd- und
Ostgrenze der Pikardie wird durch die Grenzbistümer Amiens, Beauvais, Noyon und
Cambrai gebildet, welche diese Bistümer von den Landschaften Normandie, Ile-de-
France und Champagne scheiden. Anhand dieser scheinbar gesicherten Ergebnisse
aus der Pikardie nahm Morf Verallgemeinerungen vor, die auch andere Sprachgebie¬
te der Galloromania und der übrigen Romania betreffen [S. 28]: „Und was hier fest¬
gestellt werden konnte, wird sich zweifellos für andere Gegenden nicht nur Galliens,
sondern der Romania überhaupt erweisen lassen: die uralte kirchliche Einteilung des
Landes ist stark beteiligt an der sprachlichen Gliederung des Landes. - Daß das Fran-
koprovenzaljsche die Sprache der alten Bistümer Lyon und Vienne sei, habe ich
früher schon ausgesprochen.“
In den letzten 80 Jahren haben sich verschiedene Romanisten mit der Ausgliederung
der Sprachiandschaften der Galloromania und auch der übrigen Romania beschäf¬
tigt: die These Morfs, welche die alte kirchliche Gliederung als sprachlich konstitutiv
ansieht, hat dabei keine begeisterten Anhänger mehr gefunden. Walther von Wart¬
burg hat 1950 in seiner „Ausgliederung der romanischen Sprachräume“2 die These
von Morf zum Einsturz gebracht [S. 70]: „Dieser ganze Aufbau ist mit sprachge-
schichtlichen Tatsachen zu wenig unterbaut, und manches ist von Morf überhaupt
' H. Morf, Zur sprachlichen Gliederung Frankreichs, Berlin 1911.
2 W. von Wartburg, Die Ausgliederung der romanischen Sprachräume, Bern 1950.
15