Jean Luc Fray
Sarrebourg und der obere Saargau im Lichte
der Zentralitätsforschung. Ein Beitrag zur Geschichte
der mittelgroßen lothringischen Städte im Mittelalter
Um die Mitte des 17. Jahrhunderts fügte die Hand eines anonymen Kanonikers oder
Klerikers des Stefansstifts in Sarrebourg auf Folio 153 verso des Nekrologs die fol¬
gende historiographische Notiz ein:1
Anno bis millesimo ante Christum natum
Treverense oppidum fuit aedificatum
Anno vero centesimo post urbem treverensem
Wygewonenses extruserunt urbem Sarburgensem. . . .
Der Autor beruft sich in der Folge auf eine mythische Abstammungssage der Germa¬
nen, nennt Tuiscus als „Vater der Germanen“ und Nachfahren Noahs, Mannus als
ersten König der Germanen, schließlich Wygewon als zweiten Germanenkönig, der
zur Zeit des Patriarchen Isaac regiert haben soll. Dessen Nachfahren, die Wygewo¬
nenses, hätten Sarrebourg ein Jahrhundert nach der Gründung Triers errichtet, also
gemäß der Chronologie des Mythos um 1900 vor Christus.
Hieran möchte ich drei Beobachtungen knüpfen:
1. In einer erst spät schriftlich fixierten Überlieferung, die aber offenkundig schon
lange in Sarrebourg im Umlauf war, liegt hier schlichtweg der Versuch vor, der Stadt
zu einer Gründungslegende zu verhelfen, in der auf ihre angeblich antike Vergangen¬
heit Bezug genommen wird.
1 A. D. MM G 1903 bis, f° 153 v°. Diese Handschrift scheint jünger zu sein als diejenige, von der
eine auf 1609 datierte Notiz auf f1 56v° des Nekrologs stammt. Handelt es sich dabei um den
Schreiber, der auf F 60r° zur Schenkung Herzog Karls von Lothringen an das Stift glosiert hat
und offenbar unsicher war, ob es sich um Karl II. oder „un Charles Ier“ handelte? In seinem
Werk „Sarrebourg, notices historiques sur la ville de Sarrebourg depuis les temps les plus
reculés“, Sarrebourg, 1890, S. 3) schreibt J.-F. Wagner: „Nous citerons, à titre de curiosité,
des opinions émises dans les documents mêmes de la ville: sur un manuscrit du treizième
siècle, on trouve une note écrite postérieurement, paraissant devoir être attribuée à un chanoi¬
ne de l’antique collégiale et affirmant que la fondation de la ville de Sarrebourg remonte à un
siècle après celle de Trêves, c’est à dire, selon la même note, deux mille ans avant la naissance
du Christ: cette fondation serait due à une peuplade germanique, les Wygwones, gouvernée
par un roi du nom de Wygwon II“ (sic). „Suivant une autre note écrite au XVII° siecle par
Michel Senger, chapelain de la collégiale, et sur la foi d’un ouvrage imprimé en langue germa¬
nique, la construction de Sarrebourg remonterait à 1300 ans avant J.-C. .“ Die von Wagner
erwähnte Aktennotiz stammt dabei allem Anschein nach aus dem Nekrolog des Stifts; die
Herkunft der zweiten zu ermitteln, war uns nicht möglich. Zur Anspielung auf das „livre
imprimé en langue germanique“, vgl. Anm. 6.
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