tige Kompensationsmöglichkeiten zur Bewältigung des arbeitsamen Alltags. Schlie߬
lich vermittelte die Kirche der Bergarbeiterschaft ein neues ständisches Gruppenbe¬
wußtsein - sie anerkannte die Arbeiterschaft als Stand neben den Bauern und
Handwerkern -, das sich zwar nicht politisch artikulierte, aber ein starkes soziokul-
turelles Selbstwertgefühl schuf, das zwar auch der Staat förderte, aber mit seinen
antikatholischen Kampagnen in der Kulturkampfzeit wieder in Frage gestellt hatte. So
war es kein Wunder, daß der erste große Bergarbeiterstreik und die Gründung des
Rechtsschutzvereins im kirchlich abgeschützten Raum stattfanden. So sehr gerade die
Kirche den Aktionsraum schuf, in dem die ersten autonomen Arbeiterinteressen sich
artikulieren konnten, stärkte die lebendige Frömmigkeit und das starke Bekenntnis
zur katholischen Kirche zugleich traditionelle Verhaltensstrukturen, die eine Emanzi¬
pationsmöglichkeit wieder abblockte. Insofern verzögerte die Kirche trotz aller
Abwehr von traditionalen Hemmnissen gegen den Industrialisierungsprozeß und der
Hilfeleistung bei der Anpassung an die moderne Welt die Entwicklung einer autono¬
men Arbeiterkultur und -bewegung.
5. Dieser Prozeß der Integration der Arbeiterschaft in die Industriegesellschaft unter
Bewahrung einer bodenständigen, an dörflichen Werten orientierten, konservativen,
obrigkeitlich strukturierten Mentalität wurde schließlich mitermöglicht durch eine
relative Stabilität der Familienstrukturen. Neben der Kirche war die Familie der
zentrale Orientierungspunkt. Sie war entgegen der Behauptung von Horch kein Ort
emotionaler Intimität, der auf der strikten Trennung von Hausarbeit der Frau und
Erwerbsarbeit des Mannes gegründet war. Entsprechend der Herkunft der Bergarbei¬
terfamilie kam sie eher einem traditionellen Familientyp nahe, der sich nicht wesent¬
lich von der bäuerlichen Familie unterschied. Während der Mann zusehends aus einer
Nebenerwerbstätigkeit in eine neue Berufswelt überwechselt, ohne allerdings die
landwirtschaftlichen Tätigkeiten ganz aufzugeben - und dies nicht als Freizeitbe¬
schäftigung, sondern als Beitrag zur Hauswirtschaft war die Frau nur in geringem
Maße außerhäuslich erwerbstätig, dafür unterstanden ihr die Haushaltsführung, die
Gartenarbeit, Kleinviehhaltung sowie die Kinderaufzucht. Aufgrund der langen
außerhäuslichen Arbeit der Männer spielte die Frau nicht nur die dominante Rolle im
Haushalt, sondern trug einen beträchtlichen Teil zur Haushaltsökonomie bei.
Auch wohnten die Kinder bis zu ihrer Verheiratung zumeist im elterlichen Hause, was
das Haushaltsbudget erhöhte. Neben der ökonomischen Seite ist die emotionale nicht
zu vergessen. Die meisten Saarländer waren verheiratet bzw. strebten eine Heirat an
und bekamen gerade dabei Unterstützung durch die Wohnungsbaupolitik der preußi¬
schen Bergwerksdirektion. Sie hatten relativ viele Kinder, die, soweit es ging, den
Beruf des Vaters übernahmen, eine gewisse Zeit sogar mit ihm unter Tage zusammen¬
arbeiteten. Tauffeiern, Erstkommunion bzw. Konfirmation sowie die Hochzeit spiel¬
ten wie in der bäuerlichen und bürgerlichen Welt eine große Rolle, sie waren nicht nur
Zeichen der gesellschaftlichen Anerkennung im Dorf, dessen Wertewelt man sich
anpaßte, sondern ebenso Ausdruck eines starken Familienbewußtseins. Wenn man
zugleich bedenkt, daß man zwar hier und da nach der Geburt eines Kindes heiratete,
das Problem der Unehelichkeit aber so gut wie unbekannt war, d. h. die Zahl der
unehelichen Kinder im Vergleich zu anderen Industrieregionen erstaunlich gering war,
dann ist dies ein starkes Indiz dafür, wie fest die Familie in der Lebenswelt der
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