und Mallmann die Formierung der Arbeiterschaft im Spannungsfeld von preußischer
Herrschaftsordnung und autoritärer Revolte ansiedelt, wobei sie ihre relative Eigen¬
ständigkeit vor allem der kirchlichen Unterstützung verdankte, deckt Steffens bereits
von den Anfängen der Formierung einer Arbeiterschaft an eine starke Spur selbstän¬
digen Handelns auf, das sich im Streik erstmals einen großen autonomen Freiraum
schuf, der, trotz der Niederlage, bedeutsame Wirkungen zeitigte. So plausibel beide
Positionen von ihren konträren Ansätzen her sind - Horch argumentiert aus einem
modifizierten, aber orthodoxen Marx-Verständnis, wohingegen sich Steffens dem
liberalen Marxisten Thompson verpflichtet weiß -, so verkennt Horch die Bedeutung
einer eigenständigen Organisierung der Interessen der Arbeiter selbst im Kapitalismus,
die empirisch nachweisbar ist, während Steffens die Freiräume der Arbeiter m. E. zu
hoch einschätzt, wobei ,eigensinniges4 Verhalten allzuschnell zu Formen sozialen
Protestes wird. Aber immerhin thematisiert Steffens nicht nur das Phänomen der
Arbeiterkultur, sondern weist unter Rezeption moderner Problemstellungen auf eine
Dimension, die für die Erarbeitung der Arbeiter- und Industriegeschichte von grund¬
legender Bedeutung blieb, nämlich den Formierungsprozeß aus der Sicht der Arbeiter
selbst. Hier knüpft auch K.-M. Mallmanns letzte größere wegweisende Studie über
„Bergarbeiter, Religion und sozialer Protest im Saarrevier des 19. Jahrhunderts“ von
1986 an, in der er ein Problem angeht, das zentral für das Verstehen der Mentalität
der Arbeiterschaft im Saarrevier war, aber lange ausgeblendet wurde. Gemeint ist ihr
Verhältnis zur Religion, die Frömmigkeit und Kirchlichkeit der Arbeiter, die für den
einen Forscher lediglich Zeichen und Grund ihrer konservativen Gesinnung ist, für
den anderen aber das Medium darstellt, durch das der einzelne Arbeiter überhaupt
eine eigenständige ,Kultur1 entwickeln konnte. Mit den Arbeiten von Steffens und
Mallmann wurde damit nicht nur der Anschluß an die allgemeine bundesrepublikani¬
sche sozialhistorische Diskussion wieder erreicht, sondern an diesen Ansätzen hat
jeder sich zu orientieren, der die Industriearbeiterschaft und ihre Kultur an der Saar
aufzuhellen bemüht ist.
Wenn ich im folgenden das Problem der Arbeiter- und Industriekultur an der Saar
aufgreife, so kann ich hier nur eine Problemskizze geben, die auf einige wichtige
Merkmale hinweist, wobei ich auch weniger neue Fakten bringen als einige ,neue‘
Perspektiven zur Diskussion stellen möchte. Da die Industriekultur, das muß ich
zunächst einschränkend bemerken, empirisch wie methodisch noch zu wenig aufgear¬
beitet ist, werde ich das Phänomen der Arbeiterkultur ganz in den Vordergrund
stellen; da außerdem die Hüttenarbeiter im Saarland überhaupt noch keine Untersu¬
chung erfahren haben, beschränke ich mich zudem nur auf die Bergarbeiter, die auch
stets mit gutem Grund im Zentrum der Forschung standen, denn sie prägten das Land
dominant. Schließlich, da die Sichtung des Quellenmaterials, das über das Leben der
Arbeiter selbst berichtet und aus dem wir allein erfahren, welche Alltagsprobleme sie
hatten, noch am Anfang steht, kann auch das Alltagsleben der Arbeiter bisher noch
kaum ausreichend beschrieben werden. Höchst aufschlußreich sind die bisher aufge¬
tauchten Autobiographien. Die Lebenserinnerungen des Holzer Bergmanns Johann
Meiser, die einen einmaligen Einblick in die Lebenswelt eines frommen Bergmanns
bieten, sollten dringend veröffentlicht werden. Ausführlicher informiert sind wir über
den großen Bergarbeiterstreik und den Rechtsschutzverein, die allerdings auch für die
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