Richard van Dülmen
Arbeiterkultur im Saarrevier — Aspekte und Probleme
I.
Die Frage nach der Arbeiter- und Industriekultur an der Saar hat hierzulande einen
fast exotisch-modischen Reiz. Während in der übrigen Bundesrepublik ihre Aufarbei¬
tung bereits eine lange Tradition kennt und seit 10-15 Jahren großes Interesse und
breite Förderung findet, blieb bis vor kurzem das Interesse im Saarland gering. Die
Beschäftigung mit der Arbeiterschaft, ihrer Entstehung und Geschichte reicht zwar
weit zurück bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts, doch im Vordergrund standen
die Probleme der ökonomischen Lage sowie der Organisation der Arbeiter, weniger
die ihres Alltages, ihrer Lebensweise, kurz ihrer Kultur, die überhaupt spät entdeckt
wurde. Unter Arbeiterkultur verstehen wir heute nicht mehr die Kultur der Arbeiter¬
bewegung im Sinne ihrer ideologischen, literarischen und künstlerischen Leistungen,
auch nicht eine sozialistische Kultur - frühere Forschungen hatten die kulturellen
Tätigkeiten von Arbeiterpartei und -Organisation zu rasch zur Kultur der Arbeiter
selbst erklärt sondern die Kultur der Arbeiter, der Arbeiterschaft als sozialer
Gruppe bzw. Klasse im kulturellen Umfeld der entstehenden bürgerlichen Gesell¬
schaft, egal, ob sie organisiert war oder nicht, sozialistisch dachte oder nicht. Mit
dieser Ausweitung erfuhr der Begriff der Arbeiterkultur zugleich auch eine inhaltliche
Neubestimmung. Nicht mehr allein intellektuelle und künstlerische Objektivationen
bildeten ihr Zentrum, unter Arbeiterkultur wird nun der ganze Zusammenhang von
Interessenartikulation, aktiver Gestaltung des Alltags verstanden, der über die
Arbeitswelt hinausweisend die spezifische Lebensweise einer neuen sozialen Gruppe
umfaßt. Anthropologische und alltagsgeschichtliche Fragestellungen bestimmen die
Erforschung der Arbeiterschaft. G. A. Ritter bezeichnete Arbeiterkultur als den
„Gesamtzusammenhang einer schichtenspezifischen Lebensweise, die ihren Ausdruck
nicht nur und nicht vor allem in künstlerischen Manifestationen der Arbeiterschaft
und ihren Bildungsbestrebungen, sondern in sozialem und politischem Verhalten, in
Wertvorstellungen und eigenen Institutionen findet.“ Die Arbeiterkultur bildet dabei
keine starre Größe; zwar entwickelt sie sich als ,Teilkultur‘ in der entstehenden
Industriegesellschaft, zeitigte aber trotz aller Abhängigkeit sowohl von der traditionel¬
len wie der bürgerlichen Welt ein beachtliches Maß an Eigenständigkeit, vor allem seit
der Jahrhundertwende.
Während mittlerweile dieser neue Begriff Arbeiterkultur überall in der Forschung
eingebürgert ist, findet der jüngere Begriff Industriekultur in der Forschung bisher
wenig Verbreitung, er ist in starkem Maße von Ausstellungsprojekten geprägt. Die
Skepsis gegenüber diesem Begriff liegt wohl einmal begründet in seiner relativen
Unschärfe, was aber bei der Verwendung keinen unbedingten Nachteil bedeuten
muß, zum anderen handelt es sich um einen epochalen Begriff, der nicht nur die
Kultur der Arbeiter umfaßt, sondern die Kultur einer Epoche, die dominant durch die
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