Eine Fülle von Entwicklungslinien und Strukturmomenten kreuzte sich in diesem
Prozeß: Vor allem scheinen viele evangelische Bergleute nunmehr ihre Existenz als
proletarisches Schicksal angenommen zu haben. Die Hoffnung auf den kleinen
Aufstieg hatte sich nicht realisiert, die vermeintlich größere Nähe zur Macht nicht
ausgezahlt; die Gewinne im sozialen Roulettespiel mit der religiösen Imparität fielen
geringer aus als erwartet. Sie erlebten und definierten sich jetzt primär als Arbeiter,
andere Zugehörigkeiten traten zurück. Diese über Generationen hinweg vollzogene
Akzeptanz ließ sie zwar im katholischen Kollegen nunmehr den Klassengenossen
sehen, es blieben jedoch Vorbehalt und Distanz gegenüber allen Organisationen und
Bestrebungen, die im Verdacht standen, den „Ultramontanismus“ zu fördern. Die
christlichen Gewerkschaften boten den Protestanten zwar eine gewerkschaftliche
Plattform, manchem indes scheinen sie als suspekte, dem katholischen Dunstkreis
entstammende Zwitterorganisation erschienen zu sein. Bergrat Cleff, der Vorsitzende
der Bergwerksdirektion, der 1910 berichtete, daß die sozialdemokratische Bewegung
im evangelischen Wiebelskirchen ihren stärksten Stützpunkt in unserer Belegschaft
hat, stellte fest, daß sich der Bergarbeiterverband sowohl aus Arbeitern rekrutiere, die
durch die schärfer gewordenen Agitationsmethoden des christlichen Gewerkvereins
auf radikalere Töne wohl vorbereitet sind, als auch durch solche, die aus politischen
und kirchlichen Gründen in den vorhandenen Organisationen kein Betätigungsfeld
fänden49 - Protestanten eben, die sich nicht vor den Zentrumskarren spannen lassen
wollten, die den Glaubenskampf leid waren und darum der freigewerkschaftlichen
Bekundung, daß Religion bei ihnen „Privatsache“ sei, vertrauten, falls sie nicht
ohnehin bereits ihrer Kirche den Rücken gekehrt hatten. Überdies lagerten vielfältige
Möglichkeiten der Koexistenz im christlichen Liebesgebot, das - transponiert in die
politische und wirtschaftliche Sphäre - die Einforderung von Gerechtigkeit durchaus
legitimierte. Die Agitatoren des Bergarbeiterverbandes knüpften geschickt daran an,
indem sie immer wieder darauf hinwiesen, daß ihre Gewerkschaft unermüdlich daran
arbeitet, die erste Bitte unseres Vaterunsers , Unser Brot gib uns heute‘ in die Tat
umzusetzen und das Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ zu verwirkli¬
chen.50
Nicht zuletzt scheint auch die innere Struktur des evangelischen Glaubens diesen
Prozeß begünstigt, jedenfalls nicht verhindert zu haben: Im Gegensatz zum Katholizis¬
mus als handfester Religion der Reliquien und Rituale war der Protestantismus weit
stärker Gewissenschristentum. Während der katholische Pfarrer mittels des Sakra¬
ments der Gnade über das Seelenheil entschied und Opposition zu ihm bedeutete, mit
seinen Schuldgefühlen alleingelassen zu werden, fehlten hier die durch den Priester
personal vermittelten Entlastungsmechanismen, entfielen die pastorale Schlüsselge¬
walt und die daraus resultierende „Kardinaltugend“ der „formalen Gehorsamsdemut“,
um mit Max Weber zu sprechen.51 Dem evangelischen Christen war die in der Formel
49 Bergwerksdirektion an Handelsminister v. 24. 10. 1910, LHA Koblenz Best. 442/Nr. 3789,
S. 743.
50 Polizei Neunkirchen an Bürgermeister v. 12. 11. 1906, LHA Koblenz Best. 442/Nr. 3760,
S. 543.
51 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hrsg. von
Johannes Winckelmann, Bd. 1, Köln-Berlin 1964, S. 437.
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