evangelische Arbeiterschaft hielt auch im letzten Massenstreik um die Jahreswende
1892/93, dem gewaltigsten Ausstand im Saarrevier des 19. Jahrhunderts. Auf einer
Konferenz der Saarbrücker Synode konnte es Pfarrer Fauth mit dem Hinweis
bewenden lassen, daß bei der geistigen Unreife eines großen Teils der Arbeiterbevöl¬
kerung . . . eine starke Hand über ihnen sein müsse.33
Die Jahre zwischen der Niederwerfung des Rechtsschutzvereins 1893 und Stumms
Tod 1901 brachten jedoch erstmals auch die evangelischen Geistlichen in Konflikt mit
dem herrschenden System: Stumm, der in dieser Zeit bei Hofe größten Einfluß
ausübte, setzte auf eine derart rigorose Anwendung der Praktiken des Sozialistengeset¬
zes, daß er selbst Reformströmungen im protestantischen Bürgertum bedrohte und zu
kriminalisieren trachtete. Selbst die Professoren der historischen Schule der deutschen
Nationalökonomie - Namen wie Lujo Brentano, Gustav Schmoller, Adolph Wagner
- wurden von ihm als Wegbereiter der Sozialdemokratie attacktiert. Es war keine
Übertreibung, als die Saarbrücker Synode 1896 erklärte: Fast scheint es, als ob die
alten Gegner der Mittelparteien (Ultramontane, Freisinnige, Sozialdemokraten) aus¬
gestorben seien, so ausschließlich werden wir angegriffen und bekämpft.34 Als die
Evangelischen Arbeitervereine 1894 ein Auskunftsbüro für Rechtsfragen gründeten,
drohten die wirtschaftlichen Vereine der Saarindustriellen am 4. Januar 1895 mit der
Anwendung ihres gerade eben erneut bekräftigten Sozialistengesetzes. Erst als der
Verbandsvorstand erklärte, keinen Gewerkverein ins Leben rufen zu wollen, nahm
man den Beschluß zurück.35 Doch der Konflikt war damit nur vertagt: Nachdem
Pfarrer Friedrich Naumann, Herausgeber der Zeitschrift „Die Hilfe“ und führender
Kopf der Christlich-Sozialen,36 im Oktober 1895 vor dem Saarbrücker Handwerker¬
verein einen Vortrag gehalten hatte, brach Stumm den „Patriotenkrieg“ vom Zaun.37
Ich bin kein persönlicher Feind des Herrn Freiherrn von Stumm, erklärte 1896
Superintendent Zillessen, aber allerdings ein Feind seines Systems, das sich mir je
länger je mehr als ein System der brutalen Gewalt unter völliger Nichtachtung des
unveräußerlichen Rechts jeder anderen Persönlichkeit enthüllt hat.3i Naumann prägte
33 Adolf Fauth, Was ist seitens des Pfarramtes zu thun, um das weitere Umsichgreifen der
Sozialdemokratie in unseren Gemeinden mit Erfolg zu bekämpfen? Referat erstattet in einer
Pfarrkonferenz im Aufträge des sozialen Komitees der Kreissynode Saarbrücken, Neunkirchen
o.J. (1893), S. 16; vgl. als wichtige Lokalstudie Eckehart Lorenz, Protestantische Reaktionen
auf die Entwicklung der sozialistischen Arbeiterbewegung. Mannheim 1890-1933, in: Archiv
f. Sozialgeschichte 16 (1976), S. 371-416.
34 Freiherr v. Stumm-Halberg und die evangelischen Geistlichen im Saargebiet. Ein Beitrag zur
Zeitgeschichte, hrsg. im Auftrag der Saarbrücker evangelischen Pfarrkonferenz, Göttingen
1896, S. 28.
35 Ebd., S. 37-43; Landrat Saarbrücken an Regierungspräsident v. 28. 2. 1895, LHA Koblenz
Best. 442/Nr. 4371, S. 356-362, bes. S. 358 ff.
36 Vgl. Werner Conze, Friedrich Naumann. Grundlagen und Ansatz seiner Politik in der
nationalsozialen Zeit (1895-1903), in: Walter Hubatsch (Hrsg.), Schicksalswege deutscher
Vergangenheit. Festschrift für Siegfried A. Kaehler, Düsseldorf 1950, S. 355-386; Dieter
Düding, Der Nationalsoziale Verein 1896-1903. Der gescheiterte Versuch einer parteipoliti¬
schen Synthese von Nationalismus, Sozialismus und Liberalismus, München-Wien 1972.
3' Vgl.Fritz Hellwig, Carl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg 1836-1901, Heidel¬
berg-Saarbrücken 1936, S. 539-552; Josef Bellot, Hundert Jahre politisches Leben an der
Saar unter preußischer Herrschaft (1815-1918), Bonn 1954, S. 194 ff.
38 Freiherr v. Stumm-Halberg und die evangelischen Geistlichen im Saargebiet, S. 49.
65