demonstrierte hiermit, daß es nach dem Schock und der vorübergehenden Lähmung
durch die Novemberereignisse nun nicht mehr das Heft des Handelns aus der Hand
geben wollte und ebenso wie zu Anfang des 19. Jahrhunderts noch immer den
Anspruch erhob, stellvertretend für die Gesamtbevölkerung sprechen zu können bzw.
dies auch tun zu müssen10. Das Bekenntnis der Saarbrücker Bürger zum Verbleib im
deutschen Staatsverband weist alle Grundzüge der Strategie auf, die bis zur Unter¬
zeichnung des Friedensvertrages verfolgt wurde und deren primäres Ziel die Abwehr
der tatsächlichen oder zumindest befürchteten französischen Annexionspläne war.
Die Betonung des deutschen Charakters der Bevölkerung in all seinen Ausprägungen
bei gleichzeitiger Abgrenzung vom „Erbfeind“ ist ein in mannigfaltiger Variation
immer wiederkehrendes Motiv der deutschen Saarpropaganda. Ein geschickter
Schachzug war es, die politische Willensäußerung der Bürgerversammlung von 1815
als Artikulation des Selbstbestimmungsrechtes der Saarbevölkerung umzuinter¬
pretieren und die neue Petition an den amerikanischen Präsidenten in eine über
hundertjährige Traditionslinie einzuordnen11. Auf diese Weise erkoren die Saar¬
brücker Bürger im Dezember 1918 nicht ihre eigene sozialdemokratische Regierung
in Berlin, sondern den mystifizierten Präsidenten in Washington zum Anwalt des
entrechteten Saargebietes. Ob damit dem Rat der Volksbeauftragten indirekt seine
Legitimität abgesprochen werden sollte oder erkannt worden war, daß die Zukunft
des Saarlandes nicht an der Spree entschieden werden würde, sei dahingestellt. Die
im Waffenstillstandsabkommen vereinbarte Besetzung des linken Rheinufers und
damit auch der Saarregion12 schuf jedenfalls in der Zwischenzeit Fakten, die letzteren
Schluß zulassen.
Formal blieb an der Saar die deutsche Souveränität unberührt und die am 11. Novem¬
ber 1918 bestehende Rechtsordnung - mit Ausnahme der aufgrund des Krieges
getroffenen Bestimmungen - in Kraft, de facto griff der verhängte Belagerungs¬
zustand massiv in das private und öffentliche Leben der Saarländer ein: Nächtliche
Ausgangssperren, die Überwachung des Telefon-, Telegramm- und Briefverkehrs, die
Auflösung militärischer Organisationen und die Ablieferung von Waffen, die Ein¬
führung von Passierscheinen für den Verkehr zwischen zwei Ortschaften, die strenge
Reglementierung für Versammlungen, Einquartierungen in Privathäuser oder die bald
10 Im Original folgten nun die Unterschriften: Vgl. Weißbuch, Dok. Nr. 4. S. 22 f. Da die Saarbrücker
Presse wegen der Militärzensur nicht berichtete, sind das Datum und die Autoren der Resolution nicht
mehr zu rekonstruieren. Die Vermutung liegt jedoch nahe, daß es sich um ein rein bürgerliches
Manifest handelte, weil sich in den kommenden Jahren kein führender saarländischer Sozialdemokrat
darauf berief, einer der Mitautoren des Aufrufes vom Dezember 1918 gewesen zu sein.
11 Wilsons zu Jahresanfang 1918 proklamierte „14 Punkte“ bildeten aus deutscher Sicht das Fundament
der künftigen Friedensordnung: Vgl. Schwabe: Deutsche Revolution, S. 17-226. Ob die Denkschrift
Wilson erreichte, ist nicht sicher; sie ist zumindest nicht in amerikanischen Akten zu finden: Vgl. ebd.,
S. 474 (Anm. 22).
12 Vgl. BARIETY: L’administration des territoires rhenans occupes, S. 61 ff.; HIRSCH: Saar von Genf, S.
11-15. Eine interessante Quelle über die Ereignisse zwischen Revolution und Mitte 1919 außerhalb der
Metropole Saarbrücken bieten die Aufzeichnungen des damaligen St. Wendeier Landrates Dr. SOMMER.
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