Eisenwerk erworben hatte, baute von der mittleren Saar aus ein nach Lothringen
reichendes, in unterschiedliche Industrie- und Handelsunternehmen stark diversifi¬
ziertes Wirtschaftsimperium auf54 59.
Ein Blick auf die Bevölkerungsstruktur zeigt den besonderen Charakter des Saar¬
gebiets als Arbeiterregion, in welcher etwa 1,3% der reichsdeutschen Bevölkerung
lebten60:
Bevölkerungsstruktur der Saarregion 1910 und 1927
Landwirt¬
schaft/
Forsten
Industrie
und
Handwerk
Handel und
Verkehr
Verwaltung,
freie Berufe,
Wohlfahrt
Häusliche
Dienste
Ohne Beruf/
Angabe
Summe
Juni
1910
78.136
(12,84%)
382.564
(62,87%)
60.121
(9.88%)
25.171
(4,14%)
4.565
(0,75%)
57.907
(9,52%)
608.464
(100%)
Juli
1927
65.572
(8,52%)
453.929
(58.95%)
119.147
(15,47%)
44.029
(5,72%)
16.169
(2,10%)
71.184
(9,24%)
770.030
(100%)
Der Fokussierung der Industrie auf eine begrenzte Kernregion stand die Dezen¬
tralisierung der Arbeiterschaft entgegen, die sich bis ins 20. Jahrhundert aus einem
peripheren Wohngürtel rekrutierte. Der preußische Staat förderte diese Entwicklung
durch den Ausbau der Infrastruktur mit verbilligten Eisen- und Straßenbahntarifen
und die Gewährung von Prämien bzw. zinsgünstigen Darlehen zum Bau eigener
Häuser61. Charakteristisch für die Region war der seßhafte Bergmanns- bzw. Arbei¬
terbauer, der Kumpel oder Hüttenarbeiter mit enger Verwurzelung in der dörflichen
Gemeinschaft und landwirtschaftlichem Nebenerwerb unter zwei Hektar62. War die
Entfernung für das tägliche Pendeln zur Arbeitsstätte zu groß, fand er während der
Woche Unterkunft in den Schlafhäusern der Gruben- und Hüttenbetriebe oder bei
privaten Vermietern. Die Verkehrs- und Siedlungspolitik der „Königlichen Berg¬
werksdirektion zu Saarbrücken" verhinderte so nicht nur die Entstehung eines
Industrieproletariats wie im Ruhrbergbau, sondern schuf unter den Bergarbeitern ein
Klima relativer sozialer Sicherheit.
Die Verdopplung der Einwohnerzahl in der Region von etwa 327.000 (um 1815) auf
652.000 (1910) läßt sich allerdings nicht alleine durch natürliches Wachstum er¬
klären, sondern ist das Ergebnis der Zuwanderung aus strukturschwachen Regionen
54 Vgl. Seibold; SF 12 ( 1931) 21. S. 360 f. Von der saarländischen eisenschaffenden Industrie wurden
7,1% des deutschen Roheisens und knapp 11% des Rohstahls produziert, der ebenso wie die Steinkohle
zum überwiegenden Teil auf den reichsdeutschen Markt gelangte: Vgl. SWS 5 (1931), S. 25.
Angaben nach der Volks-, Berufs- und Betriebszählung von 1927 (Zahlenangaben einschließlich der
Familienangehörigen): Vgl. SWS 5 ( 1931), S. 8; CARTELLIERE Das „Saargebiet“ in Zahlen. Reichsweit
betrug der Anteil der Arbeiter unter den Erwerbstätigen zur gleichen Zeit lediglich 45,1% während fast
jeder Vierte in der Landwirtschaft tätig war: Vgl. Ders.: Wirtschaftskunde, S. 8.
61 Auf diese Weise konnten Anfang des neuen Jahrhunderts etwa 37% der Belegschaft Hauseigentum
nachweisen: Vgl. HERR/Jahns, S. 207 f.
62 Zur Mentalität der patriotischen, selbstbewußten, bodenständigen, religiösen und innerhalb ihrer
Ortskameradschaften solidarischen saarländischen Arbeiterschaft vgl. Ames; Mallmann: Ver-
fleißigung und Eigensinn; STEFFENS.
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