Full text: Volk, Reich und Westgrenze (39)

Einleitung 
„Wenn es einmal anders käme und das Schicksal der Besiegten läge in meiner 
Hand, so ließe ich alles Volk laufen und sogar etliche von den Führern, die es 
vielleicht doch ehrlich gemeint haben könnten und nicht wußten, was sie taten. 
Aber die Intellektuellen ließe ich alle aufhängen, und die Professoren einen Meter 
höher als die andern; sie müßten an den Laternen hängen bleiben, solange es sich 
irgend mit der Hygiene vertrüge.“ Diese grimmigen Sätze schrieb Victor Klemperer 
1936 in sein Tagebuch. Die Lektüre eines von einem Geschichtsprofessor ver¬ 
fassten nationalsozialistischen Zeitungsartikels hatte den aus rassistischen Grün¬ 
den von der Universität verjagten Romanisten aufgebracht. Der Diensteifer und 
die Willfährigkeit, mit der sich seine früheren Kollegen dem verbrecherischen 
Regime anbiederten, machten ihn fast rasend. Fragen trieben Klemperer um: 
Warum haben sich so viele Wissenschaftler auf den Nationalsozialismus einge¬ 
lassen? Warum standen sie ihm nicht einfach nur abwartend gegenüber? Warum 
fielen Professoren auf die Lügen des Nationalsozialismus herein und arbeiteten 
ihm sogar noch aktiv zu? Eine mögliche Antwort kannte Klemperer selbst: 
„Wenn ich etwas überall lesen und hören muß, drängt es sich mir auf. Und wenn 
ich mich kaum vor dem Glauben hüten kann - wie sollen sich Millionen naiverer 
Menschen davor hüten?“1 Aber die Wirkung der Propaganda erklärt nicht zur 
Genüge, was akademisch Gebildete, denen sich Naivität nur im geringsten Maße 
nachsagen lässt, bewog, Hitler und seine Helfershelfer zu begrüßen. Opportunismus 
war gewiss ein weit verbreiteter Beweggrund, seinen Frieden mit dem NS-Regime 
zu schließen. Opportun war die Loyalität zu Hitler für den universitären Aufstieg 
und ebenso für die Sicherung des Hochschulpostens. Die Vertreibung eines Fünftels 
der Dozentenschaft durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums 
machte die übrigen vier Fünftel gefügig.2 Überzeugung und ideologische Nähe 
zumindest zu einem Teil der faschistischen Anschauungen halfen ebenso vielen 
Akademikern, mögliche Vorbehalte gegen die NSDAP zu verdrängen. 
Im Folgenden wird das Verhältnis von Wissenschaft und Politik an einem regio¬ 
nalen Beispiel erörtert. Untersuchungsgegenstand ist eine westdeutsche Grenz¬ 
region, der nationalsozialistische Gau Josef Bürckels, der sich zuletzt programma¬ 
tisch die „Westmark“ nannte. An diesem Beispiel kann gleichermaßen die Betei- 
lung von Wissenschaftlern an der faschistischen Politik im Allgemeinen und am 
nationalsozialistischen Okkupations- und Annexionsregime während des Zweiten 
1 Victor Klemperer, Tagebücher, Hg. Walter Novojski, Mitarb. Hadwig Klemperer (Berlin: 
AtV, 1999): /935-1936, 126; 1933-1934, 69; Hervorhebungen in den Zitaten stehen immer im 
Original. Cf. Schweigepflicht: Eine Reportage: Der Fall Schneider und andere Versuche, 
nationalsozialistische Kontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte aufzudecken, Autorinnen¬ 
kollektiv für Nestbeschmutzung, 2., korr. Aufl. (Münster: Unrast, 1996), 6. 
Michael Grüttner, „Wissenschaft“, Enzyklopädie des Nationalsozialismus, Hg. Wolfgang 
Benz, Hermann Grami, Hermann Weiß, 2. Aufl. (München: dtv, 1998), 135-53, hier 138. 
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