In engem Zusammenhang mit der partizipativen Anlage gesellschaftlicher Problemlö¬
sung im bundesdeutschen Föderalismus ist schließlich die Bedeutung von „Ge¬
schichte“ zu verstehen. Sie übernahm bei der Diskussion um Übereinstimmung und
Dissens hinsichtlich der mit Raumsymbolen kommunizierten Probleme in der Lan¬
despolitik eine zentrale Funktion. Als Instrument zur Komplexitätsreduktion erlaubte
sie einerseits die Gegenüberstellung unterschiedlicher Deutungen der Region und
damit der ihrer speziellen Charakteristika als besonders angemessen anzusehenden
Lösungsstrategien. Die Verarbeitung regionaler Probleme erhielt dadurch im auf
Wettbewerb ausgerichteten parlamentarischen System die Gestalt von Konflikten
über die regionale Deutungshoheit. Des weiteren erlaubte Geschichte als Argument
in der politischen Diskussion in bestimmten Entscheidungssituationen, in denen die
Erfolgsaussichten von Lösungsvorschlägen a priori schwer klärbar, jedenfalls aber
nicht garantierbar waren, einen Konsens über eine bestimmte Vorgehensweise herzu¬
stellen. Geschichte füllte auf diese Weise Rationalitätslücken in der gesellschaftlichen
Integration.
Mit Blick auf das Saarland ist daher der Rudolph’schen These von den 60er Jahren
als „zweite formative Phase“ der Bundesrepublik in modifizierter Form zuzustimmen.
Zwar kann die Geschichte dieses Zeitabschnitts nicht uneingeschränkt als „Erfolgs¬
geschichte“ geschrieben werden. Alleine schon die Tatsache, daß sich gegen Ende
der 60er Jahre die Hoffnungen auf ökonomische Prosperität bei vielen Zeitgenossen
trotz aller Anpassungsleistung immer noch auf Strukturelemente der Region richteten,
die sich mittelfristig nur teilweise als tragfähig erwiesen haben, spricht dagegen. Mit
der Überschneidung älterer Problemlagen mit neuen Schwierigkeiten und traditionel¬
ler Lösungsansätze mit struktureller Neuorientierung von Politik ist das Saarland aber
nach der Eingliederung ein typisches Beispiel für den von Modernisierung geprägten
Zeitabschnitt voller Widersprüche. Allerdings ist für das Saarland von „langen“ 60er
Jahren, nämlich von 1956 bis 1970, auszugehen - nicht nur wegen der Verspätung der
Föderalisierung, die durch den saarländischen Sonderweg in der Nachkriegszeit
bedingt war. Obwohl anfangs versucht wurde, sozusagen im Zeitraffer die Einglie¬
derung als Nachholprozeß zu gestalten, dauerte dieser Vorgang doch bis Ende der
60er Jahre, und zwar nicht nur aufgrund der rasanten Beschleunigung in der Ver¬
änderung grundlegender Elemente der ökonomischen Grundlagen der westlichen
Industriestaaten, sondern auch aufgrund der dadurch ausgelösten rapiden Anpassung
von Prinzipien föderaler Politik im westdeutschen Bundesstaat. In diesem Sinne mit
Paul Erker von den langen 60er Jahren als „Gelenkzeit“ saarländischer Geschichte zu
sprechen erscheint daher mehr als gerechtfertigt. Möglicherweise deutet dies darauf
hin, daß ganz allgemein der regionalen Ebene der Verarbeitung von Problemen im
Prozeß der Modernisierung auch in der Bundesrepublik eine zentrale Rolle zuzuwei¬
sen ist. Das Konzept von Bundesländern als räumlicher Code zur gesellschaftlichen
Verarbeitung von Problemen - und der speziellen Funktion von Geschichte darin -
schärft den Blick für Art und Umfang der hier erbrachten Anpassungsleistungen.
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