1 Stagnationskrise oder strukturelle Krise?
1.1 Der Regionale Strukturwandel als Forschungs- und Perzeptionsproblem
1.1.1 Alte Industrieregionen im Wirtschaftswunderland Bundesrepublik
Die Eingliederung führte das Saarland in einen Wirtschaftsraum, der nach 1945 eine
vergleichsweise günstige ökonomische Entwicklung durchlaufen hatte. Zwar war
diese Teil eines Booms, der nach dem Zweiten Weltkrieg die meisten Industriestaaten
Europas prägte,1 trotzdem wurde das „Wirtschaftswunder“ aus zeitgenössischer saar¬
ländischer Perspektive als eine Besonderheit der Bundesrepublik angesehen.2 3 In der
Forschung entw ickelte sich aus der Frage nach dieser Sonderstellung eine Diskussion
um die „langen Fünfziger“ und eine lebhafte Kontroverse um die Periodisierung der
Geschichte der frühen Bundesrepublik im „Goldenen Zeitalter“, in deren Verlauf
strukturelle Elemente des Booms in der Bundesrepublik herausgearbeitet werden
konnten. ' Die Nachkriegsentwicklung der bundesdeutschen Wirtschaft erfolgte durch
das „Aufsaugen“ traditioneller Wirtschaftssektoren, während der schnelle Wandel der
Sektorstrukturen in Wachstumsbranchen4 hohe Wachstumsraten sicherte. Es entstand
1 Hartmut Kaelble (Hg,), Der Boom 1948-1973. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der
Bundesrepublik und in Europa, Opladen 1992. Dezidiert auf die weltwirtschaftlichen Bedingungen
ausgerichtet: Ludger Lindlar, Das mißverstandene Wirtschaftswunder. Westdeutschland und die west¬
europäische Nachkriegsprosperität, Tübingen 1997 (= Schriften zur angewandten Wirtschaftsforschung
77). Einen Überblick über die verschiedenen Ökonomischen Erklärungsmodelle gibt Thomas Bittner, Das
westeuropäische Wirtschaftswachstum nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Analyse unter besonderer
Berücksichtigung der Planification und der Sozialen Marktwirtschaft, Münster 2001 (= Münsteraner
Beiträge zur Cliometrie und quantitativen Wirtschaftsgeschichte 9).
: Zum „Mißverständnis“ der „Normalität“ des Wirtschaftswachstums nach dem Zweiten Weltkrieg:
Burkart Lutz, Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Neuinterpretation der indu¬
striell-kapitalistischen Entwicklung im Europa des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. u.a. 1984, hier bes.:
S. 16ff. Die Kontroverse über die Interpretation und Erklärung des Wirtschaftswunders hat zu einer schier
unübersehbaren Fülle von Arbeiten geftihrt. Instruktive Darstellungen der verschiedenen Ansätze bieten
Lindlar, Wirtschaftswunder, und Heinen, Saarjahre, S. 1 lOf.
3 Werner Abelshauser, Die Langen Fünfziger Jahre. Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik
Deutschland 1949-1966, Düsseldorf 1987; Eric Hobsbawm, Age of Extremes. The Short Twentieth
Century 1914-1991, London 1994. Grundlegend für diese Diskussion ist Knut Borchardt, Zäsuren in der
wirtschaftlichen Entwicklung. Zwei, drei oder vier Perioden?, in: Martin Broszat (Hg.), Zäsuren nach
1945. Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte, Oldenbourg 1990, S. 21-33. Einen
Überblick über die Kritik an den verschiedenen Modellen zur Erklärung des „Wirtschaftswunders“ bietet
Hardach, Marktwirtschaft, sowie Harm G. Schröter, Von der Teilung zur Wiedervereinigung 1945-2000,
in: Michael North (Hg.), Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im Überblick, München 2000,
S. 351-419.
4 Vgl. hierzu Christoph Juen, Die Theorie des sektoralen Strukturwandels. Konzeptionelle Grundlegungen,
Probleme und neuere theoretische Ansätze zur Erklärung des sektoralen Strukturwandels, Frankfurt a.M.
u.a. 1983. In vergleichender Perspektive des „Boomsektors“ chemische Industrie in BRD und DDR: Harm
G. Schröter, „Handlungspfadverengung bis zur Selbstzerstörung“? Oder: Warum die chemische Industrie
der DDR im Vergleich zu der der Bundesrepublik zwischen 1945 und 1990 so hoffnungslos veraltete, in:
Baar u. Petzina (Hgg.), Wirtschaft, S. 304-325, sowie Rainer Karlsch, „Wie Phoenix aus der Asche?“.
Rekonstruktion und Strukturwandel in der chemischen Industrie in beiden deutschen Staaten bis Mitte der
60er Jahre, in: ebd., S. 262-303. Die regionalwirtschaftliche Problematik im hiervon besonders betroffenen
Rhein-Main-Gebiet liefert die ökonometrisch angelegte Arbeit von Karl-Gerhard Kern, Systemanalyse des
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