3 Die Lösung der Saarfrage in Saarbrücken
3.1 Von der Unmöglichkeit, miteinander zu sprechen, zur Unmöglichkeit, ein¬
ander zu widersprechen
3.1.1 Der schwierige Anfang parlamentarischer Kooperation
Obwohl das Ergebnis des Referendums vom 23. Oktober 1955 tiefgehende Ver¬
änderungen in völkerrechtlicher und ökonomischer Hinsicht auslöste, hlieb die
parlamentarische Grundstruktur des politischen Systems1 im Saarland erhalten.2 Die
aufgrund des Abstimmgsergehnisses lur den 18. Dezember 1955 angesetzten Wahlen
zum saarländischen Landtag veränderten allerdings die Zusammensetzung der Volks¬
vertretung. Kennzeichnend für die Phase der Teilautonomie war, daß eine parlamen¬
tarische Opposition hinsichtlich der nationalen Zugehörigkeit des Saarlandes prak¬
tisch nicht existierte. Im nach dem Abstimmungskampf neugewählten Landtag waren
jedoch die ehemaligen „Ja-Sager“ in nennenswertem Umfang vertreten. Die Bewälti¬
gung der daraus resultierenden Konflikte war ein Teil der Eingliederungsaufgabe.
Daher soll im folgenden die Frage nach der Verarbeitung vergangener Konfrontatio¬
nen als ein Leitgedanke verwendet werden. In diesem Zusammenhang kommt den
Parteien und ihren Fraktionen im saarländischen Landtag eine besondere Funktion
1 Die allgemeine Frage, ob für das Saarland in dieser Phase überhaupt von einem politischen System
gesprochen werden kann, soll hier fürs erste ausgeblendet werden. Einen Überblick bieten Karl-Rudolf
Körte, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, in: Manfred Mols, Hans J. Lauth u.
Christian Wagner (Hgg.), Politikwissenschaft. Eine Einführung, 3. Aufl. Paderborn 2001, S. 67-98. Der
Forschungsstand zu dieser Frage ist als recht disparat zu bezeichnen. Beispielsweise geht Schissler,
Hessen, wie selbstverständlich davon aus, daß dem Bundesland eine eigene Systemqualität zuzuschreiben
sei, während Rüdiger Voigt, Der kooperative Staat. Auf der Suche nach einem neuen Steuerungsmodus,
in: ders. (Hg.), Der kooperative Staat. Krisenbew'ältigung durch Verhandlung?, Baden-Baden 1995, S.
33-92, diese eher als von der nationalen Ebene abgeleitet als „kooperatives Interaktionssystem“ versteht.
Gerade dieser Aspekt hatte in den 70er Jahren zu einer grundlegenden Kritik der föderalen Verfassung -
und damit der Systemqualität der Länder - geführt, mit der besonders Fritz Wilhelm Scharpf, Bernd
Reissert u. Fritz Schnabel, Politikverflechtung. Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der
Bundesrepublik, Kronberg 1976, große Aufmerksamkeit erlangten. Mit der Gegenüberstellung von
Zentralisierungs- und Dezentralisierungstendenzen als Grundlinien des föderalen „interorganisatorischen
Systems“ konnte Arthur Benz, Föderalismus als dynamisches System. Zentralisierung und Dezentralisie¬
rung im föderativen Staat, Opladen 1985, diese Kritik aus Sicht der Institutionensoziologie zu einem
Forschungsprogramm umformen. Der Tauglichkeit solcher Forschungsvorhaben widerspricht aber Mohr,
Landesgeschichtsschreibung, S. 222, bereits dem Prinzip nach: „Gerechterweise sei jedoch festgehalten,
daß Bereiche wie die Wirtschafts- oder die Umweltpolitik eigentlich nur aus dem Blickwinkel des Bundes
beleuchtet werden können, es also eine Farce wäre, hier die Fiktion einer autonomen politischen Verant¬
wortlichkeit der Länder aufrechtzuerhalten.“ Auf die damit angesprochene methodische Komponente
dieser Diskussion wird an anderer Stelle dieser Arbeit noch zurückzu kommen sein.
2 Eine wichtige Voraussetzung hierfür war, daß die saarländische Verfassung bereits von Anfang an in den
wichtigsten Elementen den Prinzipien föderaler Länderverfassungen entsprach, vgl. Rainer Hudemann, 50
Jahre Landtag - 40 Jahre Bundesland - Notizen zur Saarländischen Identität, in: Protokoll der Sondersit¬
zung des saarländischen Landtages aus Anlaß seines 50jährigen Bestehens, Saarbrücken 1997, S. 21-36,
hier: S. 21-32; Adolf M. Birke, Die Bundesrepublik Deutschland. Verfassung, Parlament und Parteien,
München 1997 (= Enzyklopädie Deutscher Geschichte 41), S. 4. Einen Überblick über die zeitgenössische
Diskussion zur Verfassung bietet Hans Ernst Folz, Bibliographie zum Recht des Saarlandes seit 1945, in;
Annales Universitatis Saraviensis VI (1959), S. 39-79.