Im letzten Drittel des 18 Jahrhunderts waren sich Obrigkeit und Untertanen so nahe
gekommen, daß selbst ein Duodezfürstentum ohne landständische Tradition, wie
Nassau-Saarbrücken, einen quasi-ständischen Verfassungscharakter annahm. 'Land
und Herrschaft' standen sich in einem recht gut funktionierenden System von 'checks
and balances' gegenüber, dem eine typisch deutsche, nicht mit Frankreich, sondern
vielmehr mit England vergleichbare dualistisch-ständestaatliche Konzeption zu-
grundelag18, die ihre Wurzeln im mittelalterlichen Prinzip der Mutualität hatte, in der
wechselseitigen Verpflichtung von Herrn und Holden - auf die korrekten Brunner-
schen Begriffe gebracht: in "Schutz und Schirm" der Fürsten und "Rat und Hilfe" der
Stände. Diese 'mutua obligatio' wurde vor dem Forum der Vernunft in die Neuzeit
übertragen und besaß ein nicht zu unterschätzendes Entwicklungspotential, wie das
englische Beispiel gerade zeigt19. Daß es in Deutschland anders kam, daß hier das
ständische Modell keine Chance besaß, sondern der landesfürstliche Absolutismus
und später dann der obrigkeitliche Interventionsstaat sich durchsetzten, darf uns
allerdings nicht dazu verleiten, aus der Retrospektive unbesehen von einer 'Krise' des
ausgehenden Ancien Régime zu sprechen. Wenn wir die Dinge aus ihrer Zeit heraus
verstehen wollen und einem 'reflektierten Historismus' das Wort reden, dann müssen
wir vielmehr die enormen Entwicklungsmöglichkeiten erkennen, die das politische
System im letzten Drittel des 18.Jahrhunderts in Deutschland besaß. Um 1780 war
die politische Situation noch offen: Weder war die Herrschaft zu sehr in die Defensi¬
ve gedrängt, daß sie bereits in einer Krise steckte, noch waren die gesellschaftlichen
Kräfte so stark im Anmarsch, daß sie antifeudale Forderungen stellten, die auf eine
Überwindung des politischen Systems hinausgelaufen wären. Obrigkeit und Unterta¬
nen standen vielmehr in einem rationalen Diskurs über die Entwicklungs- und
Reformfähigkeit des Ancien Régime. Aber man darf die modernisierenden Elemente
auch nicht überbetonen. Die Forderungen der Stadt- und Landuntertanen bzw. ihrer
Anwälte blieben nämlich trotz aller Rationalisierungstendenzen ausschließlich
altständisch motiviert,20 und vor allem: Stadt und Land fanden nicht zusammen,
sondern gingen bis zum Schluß getrennte Wege! Erst die katalysatorische Wirkung
der frühen Französischen Revolution brachte hier einen kurzzeitigen Solidari-
sierungs- und zusätzlichen Politisierungseffekt. Ein schlagendes Beispiel hierfür
liefert vor allem der sog. Landkassenstreit, der von 1789 bis 1792/93 andauerte und
an dem unsere drei 'konfliktträchtige Landschaften' der zweiten Jahrhunderthälfte
chung von Olsenhausen in: GG 21 (1995), S.447-454.
18 Vgl. allgem. dazu jetzt mit vielleicht etwas zu starker Betonung des Vorbildcharakters Englands für
den deutschen Frühliberalismus: Wilhelm, Frühliberalismus.
19 Vgl. Schulze, Einführung, S.148f.
20 Vgl. allgem. die Kritik an kurzschlüssiger Kontinuität vom Ständetum zum Parlamentarismus bei
Press, Herrschaft, S.176ff.
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