Was die landesgeschichtliche Forschungssituation betrifft, so betritt die vorliegende
Studie fast ausschließlich Neuland. Während die herrschaftliche Reformpolitik des
18.Jahrhunderts in den einschlägigen Überblicksdarstellungen und einigen
Spezialuntersuchungen eingermaßen gut erforscht ist, stellen die vorrevolutionären
Stadt- und Landproteste eine 'terra incógnita' dar66. Die älteren Überblicksdarstel¬
lungen von Friedrich und seinem Sohn Adolph Köllner von 1841 bzw. 1865 sowie -
darauf aufbauend - von Albert Ruppersberg um die Jahrhundertwende zum nassau-
saarbrückischen Land und zu den beiden Städten Saarbrücken und St. Johann stehen
in der Tradition der älteren Landesgeschichtsschreibung, die in Konkurrenz zur
entstehenden bzw. bereits etablierten Nationalgeschichtsschreibung ihre Hauptauf¬
gabe in der Förderung der ehemaligen territorialstaatlichen Identität erblickte67.
Wenn Friedrich Köllner 1841 seine (für uns hier in besonderer Weise relevante)
Grafen-Geschichte"den Freunden der vaterländischen Geschichte" widmete68, dann
meinte er damit nicht Preußen und schon gar nicht eine fiktive größere Einheit,
sondern in Anbetracht seines Untersuchungsgegenstands: die Grafschaft bzw. das
spätere Fürstentum Nassau-Saarbrücken, das ihm und 'seinen Freunden' immer noch
als 'Vaterland' galt. Diese identitätsstiftende Funktion, der sich Ruppersberg durch
die vorbehaltlose Übernahme des Köllnerschen Gliederungskonzeptes anschloß,
brachte es mit sich, daß das Forschungsinteresse der älteren Landesgeschichts¬
schreibung primär auf Seiten der Herrschaft und ihrer Politik lag, während die
Untertanen und ihre Reaktionsweisen nur am Rande mitbehandelt werden69. Hinzu
tritt, daß die Herrschaft und ihre Aktivitäten bei Ruppersberg und Köllner stets in
einem guten Licht dargestellt werden. So beziehen sich beide Autoren bei der Be¬
handlung der aufgeklärten Reformpolitik der beiden nassau-saarbrückischen Fürsten
Wilhelm Heinrich und Ludwig ausdrücklich in erster Linie auf die zeitgenössische
Darstellung des Saarbrücker Regierungsrats Friedrich Rollé, der kurz vor der Beset¬
zung des Fürstentums durch französische Revolutionstruppen im Frühjahr 1793 eine
"Sammlung von den meisten wohlthätigen Handlungen für Stadt und Land der
Herren Fürsten von Nassau-Saarbrücken" herausbrachte, um dem Leser selbstredend
die "teils dem ganzen Land, teils einzelnen Klassen und Ständen, besonders aber den
Landunterthanen ersprießliche(n) Einrichtungen, Verbesserungen, Wohlthaten und
Vgl. den Forschungsüberblick von Schmitt, Saarregion, S.23-35, der sogar - vielleicht etwas zu
pointiert - behauptet, daß "die Saarregion des 18.Jahrhunderts (...) noch weitgehend terra incognita
(ist)" (S.23).
67 Vgl. F.Köllner, Land; A.Köllner, Städte 5u.II; zur Einschätzung der älteren Landesgeschichtsordnung
vgl. Schmitt, Saarregion, S.24; allgem. dazu Hauptmeyer (Hg.), Landesgeschichte, hier bes. die
Beiträge von Hinrichs und Irsigler.
** Vgl. Köllner, Land, Vorwort, S.X1I.
M Dies zeigt sich allein schon am Gliederungsprinzip der 'Landes-Geschichten' von Köllner und
Ruppersberg, das sich an den jeweiligen Herrscherpersönlichkeiten ausrichtet Wenn Ruppersberg im
Vorwort seines 2.Bandes der Geschichte der Grafschaft ankündigt, daß "ein neues Buch" entstanden
sei, dann ist dies maßlos übertrieben: Er hält sich vielmehr exakt an seine Köllnersche Vorlage und
erweitert sie nur hie und da, wo er neue Quellen gefunden hat.
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