Full text: Sozialer Besitzstand und gescheiterte Sozialpartnerschaft

In den Genuß von solchen Beihilfen kamen aber zunächst nur Beschäftigte von Gro߬ 
betrieben. Im Rahmen dieser Entwicklung entstanden auf privatrechtlicher Grundlage 
für verschiedene Wirtschaftsbranchen zahlreiche von Unternehmern finanzierte Fa¬ 
milienzulagenkassen, denen aber nicht alle Unternehmer beitraten.5 Die Arbeitgeber 
verfolgten mit dieser betrieblichen Sozialpolitik arbeitsmarktpolitische Ziele, nämlich 
ihre raren Arbeitskräfte mit diesen attraktiven Beihilfen an ihr Unternehmen zu binden. 
Folge dieser unternehmerischen Initiative waren aber große Unterschiede in der Lei¬ 
stungsberechtigung und im Leistungsumfang. Gegen diese Disparitäten intervenierte 
der Staat zu Beginn der dreißiger Jahre. Durch das Pflichtversicherungsgesetz von 
1932 wurden alle Unternehmen verpflichtet, sich Familienzulagenkassen anzuschlie¬ 
ßen. Sie unterlagen einer ministeriellen Genehmigungspflicht, ihre Verwaltung wie 
auch die Beitrags- und Leistungshöhe lagen aber noch in Unternehmerhand. Ab 1939 
bildeten die Familienzulagen als Beihilfen der Arbeitgeber für ihre Beschäftigten ein 
Lohnelement. Erstmals kam es zur Vereinheitlichung und staatlichen Kontrolle der 
Familienzulagen. Ihre Organisation wurde kontrolliert und koordiniert. Das dezentral 
und freiwillig organisierte Familienzulagensystem im Rahmen einer betrieblichen 
Sozialpolitik gehörte damit endgültig der Vergangenheit an. Die Höhe der Familien¬ 
zulagen orientierte sich nun an einem besümmten Prozentsatz des Durchschnittslohnes 
im einzelnen Departement. Zugleich wurde der Kreis der Empfangsberechtigten auf 
Selbständige, Bauern und Handwerker ausgedehnt, weil der Leistungsanspruch nicht 
mehr an die Tätigkeit als Arbeitnehmer gekoppelt wurde, sondern an die Bedingung 
der beruflichen Tätigkeit. Auch bei Verdienstausfall infolge von Arbeitsunfällen, 
Krankheit und Arbeitslosigkeit wurden die Familienzulagen weiter gezahlt.6 
Diese Reformen erhöhten ihre politische Akzeptanz. Bisher standen die nichtchristli¬ 
chen Gewerkschaften den Familienbeihilfen aus gesellschafts- und lohnpolitischen 
Gründen eher kritisch gegenüber. Ausschlaggebend für ihre Haltung war zum einen 
der patronale Charakter der Familienbeihilfen mit dem Gedanken, daß der Arbeitgeber 
auf diese Weise indirekt das Privatleben des Arbeitnehmers bestimmen könnte. Lohn¬ 
politisch sahen sie in den Familienbeihilfen ein Hemmnis. Die Arbeitgeber hatten es 
nämlich verstanden, bei Tarifverhandlungen die Gewerkschaften zu schwächen, indem 
sie eine Konkurrenz zwischen Erhöhungen des Arbeitslohnes und Erhöhungen der 
Familienbeihilfen herstellten.7 Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten die Gewerk¬ 
schaften ein Gegengewicht zum familienpolitischen Engagement der Katholischen 
Kirche bilden. Insbesondere die Kommunisten und die französische Lehrergewerk- 
5 Ebd., S.129. 
6 Yves Saint-Jours, Landesbericht Frankreich, in: Peter A. Köhler und Hans F. Zacher (Hrsg.), Ein 
Jahrhundert Sozialversicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Österreich 
und der Schweiz, Berlin 1981, S.231. 
7 B r e m m e, Freiheit, S.180. 
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