1.1 Divergenz sozialpolitischer Probleme und Schwerpunktbildungen
Die deutsche Arbeitslosenversicherung und das französische Familienzulagensystem
entstanden vor dem Hintergrund völlig gegensätzlicher sozialer Probleme in der ersten
Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Frankreich wurde mit massivem Geburtenrück¬
gang und einem damit verbundenen Arbeitskräftemangel konfrontiert. Dagegen stand
die deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik vor der Frage, wie Massenarbeitslosigkeit
wirtschaftlich und sozial bewältigt werden konnte. In Frankreich versuchte man der
Entvölkerung mit den Familienzulagen entgegen zu wirken, in Deutschland wurde die
Arbeitslosenversicherung eingeführt.
1.1.1 Französische Familienpolitik
Während bis zum Zweiten Weltkrieg in Europa, wie z.B. in Italien, ein starkes Bevöl¬
kerungswachstum zu beobachten war und auch im Deutschen Reich die Entwicklung,
wenn auch abgeschwächt, dieselbe Tendenz zeigte, verlief in Frankreich die demogra¬
phische Entwicklung im Vergleich zu anderen europäischen Ländern untypisch.1
Hinsichtlich der Bevölkerungsdichte rutschte Frankreich im Zeitraum zwischen 1889
und 1939 von Platz 6 auf Platz 12 ab, bei Kriegsausbruch 1939 hatte es die niedrigste
Geburtenziffer Europas, und seit 1935 war seine Sterbequote höher als die Geburtenra¬
te.2 Neben der psychologischen Komponente, der Furcht vor dem Aussterben und der
Entvölkerung des Landes, war vor allem auch für die französische Wirtschaft diese
Entwicklung beängstigend. Sie erklärt unter anderem auch die im Vergleich zu anderen
europäischen Staaten relativ langsame Industrieexpansion.3
Sowohl die staatliche Sozialpolitik wie die der Unternehmer, partiell beeinflußt durch
die katholische Soziallehre, konzentrierten sich in den zwanziger Jahren immer stärker
auf die soziale Situation der Familien. Die staatliche Sozialpolitik in Frankreich reagier¬
te auf den Bevölkerungsrückgang mit einer natalistischen Familienpolitik in Form von
Geburten- und Stillprämien, die ab dem dritten Kind gezahlt wurden. Schon gegen
Ende des Ersten Weltkrieges begannen einige Unternehmer, Beschäftigte mit Familien
durch Zahlung von Beihilfen zu unterstützen. Gerade die Familien waren von den nach
dem Ersten Weltkrieg massiv gestiegenen Lebenshaltungskosten besonders betroffen.4
1 Burkhart Lutz, Die Singularität der europäischen Prosperität nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Hartmut
Kaelble (Hrsg.), Der Boom 1948-1973. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der
Bundesrepublik Deutschland und in Europa, Opladen 1992, S.54.
2 Gabriele B r e m m e, Freiheit und soziale Sicherheit, Stuttgart 1961, S.184. Franz Schultheis,
Sozialgeschichte der französischen Familienpolitik, Frankfurt a.M. u.a.0. 1988, S.368.
3
Hartmut Kaelble, Frankreich und die Bundesrepublik im Vergleich, in: Ders. (Hrsg.), Der Boom
1948-1973. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und in
Europa, Opladen 1992, S.224.
4
Rainer Hudemann, Sozialpolitik im deutschen Südwesten zwischen Tradition und Neuordnung
1945-1953. Sozialversicherung und Krtegsopferversorgung im Rahmen französischer Besatzungspolitik,
Mainz 1988, S.128.
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