Full text: Sozialer Besitzstand und gescheiterte Sozialpartnerschaft

II. SOZIALPOLITISCHE ENTWICKLUNG IM KONFLIKTFELD ZWI¬ 
SCHEN TRADITION UND ANPASSUNG 
Beiden Beratungen zur Sozialversicherungsreform im Sommer 1947 hatte sich bereits 
angedeutet, daß es zu Spannungen kam, wenn die saarländische Seite an Elementen der 
deutschen Sozialversicherung, wie z.B. den Staatszuschüssen, festhalten wollte. Diese 
Konfliktkonstellation ist keine saarländische Sondererscheinung. Auch die Sozial¬ 
politik in den übrigen deutschen Ländern entwickelte sich in einem Spannungsfeld 
zwischen der Verbundenheit mit der deutschen Sozialversicherungstradition und den 
Neuordnungsvorstellungen der Besatzungsmächte und ihrer Militärregierungen. Im 
Saarland gewinnt dieser Gegensatz vor dem Hintergrund der fast zwölfjährigen Wirt¬ 
schaftsunion mit Frankreich eine besondere Qualität. 
Verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten waren denkbar: Wurde die Sozialpolitik an 
der Saar durch diesen Gegensatz gelähmt? Kam es im weiteren Verlauf zu einem 
Durchbruch der deutschen Sozialversicherungstradition, blieben deutsche Strukturen 
bestehen oder fand an der Saar ein Transfer französischer Modelle statt? Letzteres 
würde eine sozialpolitische Assimilierung bedeuten, eine angesichts der langen Ab¬ 
trennung des Saarlandes von Deutschland ebenso denkbare Entwicklung. Andererseits 
war aber auch ein sozialpolitischer Partikularismus vorstellbar, wenn die saarländische 
Sozialpolitik sich nicht einseitig an Deutschland oder Frankreich orientieren und 
sowohl deutsche als auch französische Entwicklungstendenzen aufnehmen würde. Dies 
wirft die Frage auf, ob es eine spezifische saarländische Sozialpolitik gegeben hat. 
1. Synthese divergierender sozialpolitischer Traditionen bei Arbeitslosenversicherung 
und Familienzulagen 
Das Saarland, bis 1945 mit der deutschen Sozialversicherungstradition verbunden, 
dann durch die Wirtschaftsunion mit französischen Strukturen konfrontiert, verfügte ab 
1948 sowohl über eine dem deutschen System ähnliche Arbeitslosenversicherung als 
auch über ein dem französischen Modell weitgehend entsprechendes Familienzulagen¬ 
system. Beide zeigen, daß der Gegensatz zwischen deutschen und französischen 
Traditionen in Teilbereichen konstruktiv im Sinne einer Synthese zwischen beiden 
Systemen gelöst werden konnte. 
Die Einführung von Familienzulagen im Saarland und die Wiedereinführung sowie der 
Ausbau der Arbeitslosenversicherung verdeutlichen, daß das Saarland aus den di¬ 
vergierenden gesellschaftlichen Problemstellungen Deutschlands und Frankreichs, die 
zu unterschiedlichen sozialpolitischen Schwerpunkten und Lösungsansätzen führten, 
Nutzen ziehen konnte. Zunächst soll der Blick auf bestimmte gesellschaftliche Ent¬ 
wicklungstendenzen beider Nationen gerichtet werden, um die unterschiedlichen 
Schwerpunkte zu erkennen. 
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