Vili. Ergebnisse
Die Geschichte des Saarlandes zwischen 1945 und 1955 kann nur hinreichend gewür¬
digt werden, wenn die Sozialpolitik dieser Zeit berücksichtigt wird, die durch die
autonomistische Sozialdemokratie mit ihrem Vorsitzenden und langjährigen Minister
für Arbeit und Wohlfahrt Richard Kirn geprägt wurde.
Die Sozialpolitik nahm im Saarland angesichts der sozialen Probleme der Nachkriegs¬
zeit wie generell in Europa einen hohen Stellenwert ein. Wegen der Sondersituation des
Landes wurde sie aber zu einem Politikum ersten Ranges. Die autonomistischen
Parteien CVP und SPS versuchten in der Sozialpolitik von Anfang an ein Maximum
ihrer politischen Vorstellungen gegenüber dem französischen Wirtschaftspartner
durchzusetzen und orientierten sich an bewährten Traditionen der deutschen Sozial¬
politik, gleichwohl nahmen sie Neuordnungsvorstellungen des französischen Partners
auf, soweit sie eigenen Reformzielen entsprachen.
Die autonomistischen Parteien beanspruchten auf dem Feld der Sozialpolitik einen
besonders großen politischen Spielraum zur Kompensation fehlender wirtschafts¬
politischer Kompetenzen. Die Bewahrung eines sozialpolitischen Spielraumes bewirkte
einerseits, daß im Saarland eine sozialpolitische Assimilation an Frankreich unterblieb
und damit gleichzeitig eigene saarländische Organisationsstrukturen und damit eine
sozialpolitische Autonomie erhalten blieb. Im Kontext dieser Entwicklung stand die
Trennung von Sozial- und Wirtschaftspolitik. Die Saarparteien spielten den sozial¬
politischen Part, während die Wirtschaftspolitik wesentlich stärker durch Frankreich
geprägt wurde. Die Vorgänge um die Beratungen zum Saarknappschaftsgesetz vom 11.
Juli 1951 zeigen, daß CVP und SPS immer weniger bereit waren, auf die Zwänge der
Wirtschaftsunion Rücksicht zu nehmen und versuchten, über eine sozialpolitische
Emanzipation als Schrittmacher zu größerer wirtschaftspolitischer Unabhängigkeit zu
kommen. Die fortschrittlichen Selbstverwaltungsregelungen, die Abkopplung von der
französischen Plafondhöhe und die Absage an eine breite Rentennivellierung markie¬
ren diese Tendenz.
Sozialpolitik diente dazu, gegenüber Frankreich Selbstbewußtsein zu demonstrieren
und langfristig größeren Einfluß in der Wirtschaftspolitik zu gewinnen. Gleichzeitig
fungierte die Sozialpolitik nach innen als Instrument zur Legitimierung einer autono¬
men Saar. Der soziale Leistungsvorsprung gegenüber der Bundesrepublik wurde zum
Markenzeichen des Saarlandes erhoben und es wurde suggeriert, daß er mit der Auto¬
nomie stehen und fallen würde. Auf Kriegsopfer- und Wahlkampfveranstaltungen
wurde dies ebenso deutlich wie auch in den immer wieder stolz veröffentlichten
Untersuchungen des Internationalen Arbeitsamtes in Genf.
Auch die französische Seite sah in einem hohen sozialen Leistungsstandard ein In¬
strument zur politischen Stabilisierung einer von Deutschland separierten Saar, so
488