I. SOZIALVERSICHERUNGSREFORM ZWISCHEN NEUORDNUNG UND
TRADITIONSKONFLIKTEN
Bevor die saarländische Sozialversicherungsreform analysiert werden soll, erscheint es
sinnvoll, sich dem Thema Sozialpolitik nach 1945 ganz allgemein zu nähern, und den
Stellenwert dieses Politikbereiches, Stimmungen und Erwartungshaltungen vorzustel¬
len.
1. Internationale Sozialversicherungsdiskussion ab 1941
Nach 1945 gewann die Sozialpolitik und damit auch der Ausbau der Sozialversiche¬
rung eine erhöhte Aufmerksamkeit bei den politisch Verantwortlichen. Die Weichen
dafür wurden bereits während des Krieges durch den Beveridge-Plan, die Atlan¬
tik-Charta (12. August 1941) und durch die Philadelphia-Konferenz (20. April bis 12.
Mai 1944) gestellt, wobei hier sozialpsychologisch die durch die Kriegssituation
gewachsene gesellschaftliche Solidarität einen günstigen Nährboden schuf. In der im
August 1941 von Roosevelt und Churchill verkündeten Atlantik-Charta fungierte die
"social security" als Kriegsziel, die als "moralische Waffe" gegen den nationalsozialisti¬
schen Feind eingesetzt werden sollte.1
Großes Aufsehen erregte 1941 der britische Beveridge-Plan, der auf eine außerge¬
wöhnliche, über die nationalen Grenzen hinausgehende Resonanz stieß. Der Plan war
einerseits von liberalem Gedankengut geprägt, weil er über ein niedriges Leistungslevel
einen Anreiz zur Eigeninitiative und ergänzenden Selbstvorsorge erhalten wollte,
andererseits aber eine soziale Grundsicherung auf egalitärem Niveau vorsah und in der
Leistungsgestaltung auf eine lohnbezogene Differenzierung weitgehend verzichtete.
Der Plan basierte auf der Ausdehnung der Sozialversicherung auf fast alle Bürger
sowie der organisatorischen Zusammenfassung der verschiedenen Versicherungsarten.2
In abgewandelter Form bildete er die Grundlage für die von der Labour-Regierung
1946 eingeleitete soziale Neuordnung. Besonders einschneidend war dabei die Aus¬
dehnung der Sozialversicherungspflicht.3 Der Beveridge-Plan wirkte fast weltweit,
zumindest in West- und Mitteleuropa. Er leistete beispielsweise wesentliche Impulse
zum Ausbau der Sozialversicherung in der Schweiz, beeinflußte die sozialpolitischen
Nachkriegsplanungen der belgischen und niederländischen Exilregierungen und hatte
auch Auswirkungen auf die Sozialpolitik skandinavischer Länder wie Schweden und
1 Jens Alber, Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat, Frankfurt a.M. u.a.O 1982, S.58. Hans Günter H o-
c k e r t s, Die Entwicklung vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart, in: Peter A. Köhler und Hans F.
Zacher (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte und aktuellen Situation der Sozialversicherung, Berlin 1983,
S.143-145, 147.
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Siehe auch ebd. : Gerhard A. R i 11 e r, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen
Vergleich, in: Historische Zeitschrift (HZ) / Beiheft 11, S.145-149.
Hans Günter Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und
deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 bis 1957, Stuttgart 1980, S.31.
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