Der Hinweis besagt mindestens, daß das in Flandern angeblich schon „seit Jahrhunderten"
praktizierte Prinzip der Individualsukzession in anderen Teilen Europas noch als neues
Element empfunden wurde; das Teilungsprinzip war offenbar im Recht vieler Völker noch
nicht überwunden.
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Unser Tagungsthema hieß „Lotharingia". Entstanden ist dieses Reich im Auflösungsprozeß
des Karlsreiches, man könnte auch sagen, daß es neben anderen regna aus dem sich auflö¬
senden fränkischen Großreich entlassen wurde. Insofern war die Einheit des Frankenreiches
unser Ausgangspunkt, und das spezielle Interesse konzentrierte sich auf das Teilungsprinzip,
das seit dem beginnenden 6. Jahrhundert in durchaus komplexer Weise als eine einigende
Klammer wirksam wurde. Damit war dieses Prinzip zwar kein Bedingungsfaktor der - für
europäische Verhältnisse - so dauerhaften fränkischen Großreichsbildung, wohl aber führte
es regelmäßig wieder zur Reichseinheit. Dies lag in besonderer Weise an dem dominieren¬
den Erbrecht der Brüder, das die politischen Führungsschichten im wesentlichen gegenüber
dem Erbrecht der Neffen favorisierten. Diese Haltung ist von eminenter Bedeutung, da die
Großen des Frankenreiches zäh und erfolgreich ihren eigenen Wahlanspruch bei Rege¬
lungen der Herrschaftsnachfolge zu behaupten wußten. Insofern hatte das Teilungsprinzip
die Kraft und Funktion einer regulativen politischen Idee. In spezieller Weise war sie im
Jahre 511 ausgeformt worden und hatte sich nach Chlodomers Tod in dieser Ausprägung
verfestigt - von einer „Bewährung" wird man angesichts des grausigen Schicksals der Söhne
Chlodomers nicht sprechen wollen.
Nachdem im Verlauf der Merowinger- wie auch Karolingerzeit das Teilungsprinzip wieder¬
holt zur Anwendung gekommen war, ohne die Reichseinheit dauerhaft zu gefährden,
änderte sich dies um die Mitte des 9. Jahrhunderts. Denn im Vertrag von Verdun 843, des¬
sen Teilungsplan sich auf vorgegebene Machtkonstellationen stützte und supragentile, teils
auch sprachlich unterschiedene politische Verbandsstrukturen begünstigte, ergab sich eine
bewußte Abwendung vom bisherigen sog. Anwachsungsrecht der königlichen Brüder¬
gemeine zugunsten des bislang selten und schwach berücksichtigten Erb- oder Eintrittsrechts
der Neffen. Diese Grundentscheidung von Verdun muß auch auf dem Hintergrund der sich
formierenden künftigen Großvölker beiderseits des Rheins gesehen werden, was hier aber
nicht näher auszuführen ist. Für das Mittelreich von 843 sind solche Zusammenhänge
jedoch nicht erkennbar, und erst die Teilung von 855 nach Lothars I. Herrschaftsverzicht
(und baldigem Tod) schuf relativ geschlossene Herrschaftskomplexe, die allerdings wegen
ihrer Schwäche die Machtgier mächtigerer Nachbarn reizten. Gleichwohl hat Lothars II.
Teilreich lebensfähige Strukturen hinterlassen, die weit über das ausgehende 9. und das 10.
Jahrhundert hinausreichen.
Anders als in Lotharingien setzte sich im größeren östlichen wie westlichen Nachbarreich
die Idee der Unteilbarkeit durch, wesentlich gespeist von den neu belebten Gedanken der
Individualsukzession und der Primogeniturfolge. Das Wahlrecht der Großen wurde dadurch
nicht grundsätzlich angetastet, denn Erbrecht und Wahlrecht blieben verschränkt. Es dürfte
vor allem an der kriegerischen Aristokratie gelegen haben, daß in Lotharingien ähnliche
Gedanken nicht erkennbar griffen und das Land noch sehr lange ein Unruheherd blieb. In
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