Wolfgang Haubrichs
VOLKSSPRACHE UND VOLKSSPRACHIGE LITERATUREN
IM LOTHARINGISCHEN ZWISCHENREICH (9.-11. JH.).
I.
„Latein" hat man gesagt, „ist die Vatersprache" des westlichen Europa.1 Volkssprachen sind
Muttersprachen; sie sind durch Oralität geprägt, sind das Mittel der mündlichen Verständi¬
gung. Die Vatersprache Latein ist das Kommunikationsmittel der Schriftlichkeit, der Buch¬
kultur und derjenigen, die über sie verfügen, der litterati, derjenigen, die schreiben und
lesen können.2 Trennend und den Gegensatz verschärfend kommt für das frühe Mittelalter
hinzu, daß die Vertreter der Schriftkultur nahezu ausschließlich Kleriker sind, während die
Laien vielleicht noch über Kenntnisse des Lateins verfügen, aber durchweg die mündliche
Kultur bevorzugen, deren Quellen uns naturgemäß nur in sekundären Bezeugungen
zugänglich sind. Dieser Zustand war durchaus geeignet, Latein bzw. die Volkssprache
jeweils als Merkmal einer bestimmten Kultur, der Kleriker- bzw. der Laienkultur erscheinen
zu lassen. Selbst Könige verfügten im 10. Jh. - im 9. mag es da besser bestellt gewesen sein
- oft über keine oder nur rudimentäre Lateinkenntnisse. So mußten lateinische Dokumente
auf der Ingelheimer Synode von 946 für den ostfränkischen Herrscher Otto den Großen und
den westfränkischen König Ludwig IV. ins Althochdeutsche übersetzt werden, weil beide
kein Latein, jedoch die teutisca lingua verstanden.3
Nun bleiben aber die Probleme, daß erstens auch angehende Kleriker zunächst zum Latein
aus der Muttersprache heraus erzogen werden müssen und daß zweitens, will man eine
1 Vgl. z.B. Karl Langosch, Lateinisches Mittelalter. Einleitung in Sprache und Literatur. Darmstadt 1963,
S. 10; Ders., Profile des lateinischen Mittelalters. Geschichtliche Bilder aus dem europäischen Geistesle¬
ben. Darmstadt 1965, S. 3; Ders., Europas Latein des Mittelalters. Wesen und Wirkung - Essays und
Quellen. Darmstadt 1990, S. 15ff.; Ders., Mittellatein und Europa. Führung in die Hauptliteratur des Mit¬
telalters. Darmstadt 1990, S. XIV und 1 ff.
2 Vgl. den klassischen Aufsatz von Herbert Grundmann, Litteratus - illitteratus. Der Wandel einer Bil¬
dungsnorm von der Antike zum Mittelalter. In: Archiv für Kulturgeschichte 40. 1958, S. 1 -65; ferner z.B.
Rosemary McKitterick, The Carolingians and the Written Word, 1989; Dies. (Hg.), The Uses of Liter-
acy in Early Medieval Europe, 1992; Brian Stock, The Implications of Literacy. Written Language and
Models of Interpretation in the 11 th and 12th Centuries. Princeton 1983; Wolfgang Haubrichs, Die
Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700-1050/60). Geschichte
der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, hg. v. Joachim Heinzle, Bd. 1,1.
Frankfurt a.M. 1988, S. 60ff. [Lit. S. 443f.]. 2. Aufl. Tübingen 1995, S. 43ff. [Lit. S. 370. 373f.|.
3 Flodoard von Reims, Annales, MG SS 3, 363; vgl. dazu Willi Sanders, Imperator ore iucundo saxo-
nizans. In: Zeitschrift für Deutsches Altertum 98. 1969, S. 25; ferner: Reinhard Schneider, Schriftlich¬
keit und Mündlichkeit im Bereich der Kapitularien. In: Recht und Schrift im Mittelalter, Sigmaringen
1977, S. 257-280; Haubrichs (wie Anm. 2), S. 39. 195f. [2. Aufl. S. 23f. 157f.]; Wolfgang Haubrichs/
Max Pfister, „In Francia fui". Studien zu den romanisch-germanischen Interferenzen und zur Grund¬
sprache der althochdeutschen 'Pariser (Altdeutschen) Gespräche' nebst einer Edition des Textes. Akade¬
mie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Abh. der Geistes- und Sozialwiss. KL, Jg. 1989, Nr. 6.
Stuttgart 1989, S. 8f,
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