VORWORT
Oskar Lafontaine
Ministerpräsident des Saarlandes
Das Vereinte Europa ist heute mehr als nur Vision. Europa wächst politisch und wirtschaft¬
lich zusammen, wobei die Nationalstaaten zunehmend Kompetenzen abgeben und auch an
kultureller Prägekraft verlieren. Von diesem bedeutsamen Umbruch bleibt die historische
Forschung nicht unberührt, die Zahl der europäischen Geschichtsbücher nimmt zu, und
der überkommene nationalgeschichtliche Blickwinkel wird immer stärker durch moderne
regionalhistorische Studien relativiert. Mit allem verdichtet sich unser Wissen darüber, daß
es wirksame regionale Traditionen in unserer Geschichte gibt und daß Europa ein gemein¬
sames kulturelles Erbe besitzt, das tiefer wurzelt als alle nationalen Entwicklungen. Diese
beiden Gedanken verbinden sich im deutsch-französischen Grenzraum in besonderer
Weise mit dem Begriff „Lotharingia".
Nach der Reichsteilung Lothars I. von 855 bildete Lotharingia den nördlichen Teil des frän¬
kischen Zwischenreichs. Es erstreckte sich von der Schelde und Maas bis zum Rhein und
von der Nordsee bis zum Jura, etwa auf der Flöhe von Besançon. Anders als das West- und
das Ostfränkische Reich sollte Lotharingia aber nicht zur Wiege eines mächtigen National¬
staates werden. Vielmehr entwickelte es sich zu einer politischen Grenzlandschaft, die bis
in das 20. Jahrhundert hinein immer wieder neue Grenzziehungen erfuhr und sich heute auf
die Staaten Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Frankreich und die Bundesrepublik
Deutschland verteilt. Sieht man von Italien einmal ab, waren also gerade jene Länder vor
mehr als tausend Jahren zumindest teilweise unter einem gemeinsamen herrschaftlichen
Dach vereinigt, von deren Boden der europäische Integrationsprozeß nach dem II. Welt¬
krieg seinen Anfang nahm. Darin liegt eine historische Symbolik, die es weiter auszuleuch¬
ten gilt.
Es ist unter Historikern noch eine offene Frage, warum das fränkische Zwischenreich sich
machtpolitisch nicht behaupten konnte und schon bald seine Selbständigkeit verlor. Weit¬
aus stärker als sein politisches Gewicht war aber unstrittig sein kulturelles Ausstrahlungsver¬
mögen. Lotharingia wirkte als Begegnungslandschaft, als Ort der kulturellen Befruchtung
zwischen West und Ost, Nord und Süd und hatte in Lüttich, dem damaligen „Athen des
Nordens", ein wichtiges geistiges Zentrum. Was das relativ kurzlebige Reich Lotharingia
somit bereits im 10. Jahrhundert kennzeichnete: die geringe politische Machtentfaltung und
die grenzüberschreitende kulturelle Vielfalt, sollte die weitere Geschichte dieser alten
europäischen Kernlandschaft auch in den folgenden Jahrhunderten bestimmen. Prägend
blieb die Mittellage zwischen romanischer und germanischer Kultur, die zu unverwechsel¬
baren und doch ähnlichen regionalen Identitäten in Flandern und der Wallonie, im Saarland,
in Lothringen und Luxemburg geführt hat. Hier mußte man immer schon verschiedene
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