5. Die Gründe für den Ausgang des Plebiszits
Die Abstimmung von 1935 belegt in geradezu exemplarischer Weise die Viel¬
schichtigkeit dieser "demokratischen" Entscheidung. So scheinen zum einen die
äußeren Voraussetzungen einer freien Wahlentscheidung durch das unabhängige
Gremium der Abstimmungskommission mit den dazugehörigen Wahlmodalitäten
gegeben zu sein, andererseits jedoch gewinnen in übersteigerter Form diejenigen
Faktoren Einfluß, die geradezu darauf abzielen, die demokratischen Spielregeln zu
pervertieren und letztlich ganz abzuschaffen.
Wie kaum eine andere Abstimmung weist diese auf die nachhaltige Macht patrio¬
tisch-nationaler Mythen hin. Sowohl die saarländische Bevölkerung als auch das
Ausland und der Völkerbund haben die Rechtsverletzungen durch das Nazi-Re¬
gime größtenteils falsch gedeutet; daß den Nationalsozialisten ihr "Coup" an der
Saar gelingen konnte, beruht nicht zuletzt auf den Bedingungen des politischen
und kulturellen Lebens1, wie sie der Versailler Vertrag geschaffen hatte. Die Tra¬
gik der Fehlentscheidungen liegt vor allem in der Schützenhilfe für den National¬
sozialismus durch die Parteien, Organisationen und Kirchen, die den einmal ein¬
geschlagenen Weg oftmals wider besseres Wissen weiter beschritten und trotz gu¬
ter Ansätze zum Widerstand an eigenen Unzulänglichkeiten scheiterten.
Die Stärke der Einwirkungen aus dem Reich auf die Entscheidungsfindung bis zur
Abstimmung und der Erfolg der nationalsozialistischen Taktik bezeugen, daß trotz
der geringen vorherigen Bedeutung der NSDAP/Saar die Einflußnahme nur grei¬
fen konnte aufgrund des im Saargebiet bereits vorhandenen reichstreuen Beamten¬
apparates, Vertrauens-, Verbindungs- und Spitzeldienstes und "dank" der ge¬
schickten Lenkung durch den Saarbevollmächtigten Hitlers, Josef Bürckel.
Die Schwierigkeiten der SPD/S, der KPD/S und der katholischen Opposition bei
der Bildung einer Aktionsgemeinschaft aller Rückgliederungsgegner belegen zwar
den Willen zum Umdenken und das Suchen nach neuen Wegen, können aber
heute nur noch Zeugnis einer "anderen" Saar ablegen, die sich nicht im Hurra-Pa¬
triotismus erschöpfte. Hierzu sind unter Umständen auch die potentiellen bzw. die
mehr oder weniger aktiven Rückgliederungsgegner zu zählen, die, obwohl von au¬
ßerhalb, aufgrund anderweitiger Rücksichtnahmen (so die Bischöfe von Trier und
Speyer), teilweise persönlicher Profilierung (Max Braun), geänderter politischer
Zielsetzungen und erlahmten wirtschaftlichen Interesses (Frankreich) sowie recht¬
licher Grundeinstellung und Vertragsgläubigkeit (Völkerbundsrat) nicht imstande
waren, diesen Triumph nationalsozialistischer Machtpolitik zunichte zu machen.
Geradezu abgedroschen klingt die in allen möglichen internationalen Kreisen
herrschende Auffassung von der Kurzlebigkeit bzw. der noch zu überwindenden
Anfangsschwächen des Nazi-Regimes; doch auch sie galt in vielen Bevölkerungs¬
schichten an der Saar und hemmte die Entfaltungsmöglichkeiten einer wirksamen
1 Vgl. L. Linsmayer, Politische Kultur, S. 163-302 u. S. 349-371.
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