D.
Wanderungsbewegungen in Malstatt-Burbach, Diedenhofen
UND ESCH-AN-DER-ALZETTE ZWISCHEN 1856 UND 1910
a) Das Gesamtwanderungsaufkommen
"Um existieren zu können, braucht die Stadt Zuzug von außen, und so lockt sie immer
neue Menschen an, die sich auch bereitwillig einfinden. Viele lassen sich von den
aufgeklärten städtischen Verhältnissen, den echten oder scheinbaren Freiheiten, den bes¬
seren Löhnen blenden, manche kommen auch, weil das Land oder eine andere Stadt
nichts mehr von ihnen wissen will, sie kurzerhand verstoßen hat."1 Dieser Gesetzmäßig¬
keit unterlag das Städtewesen bereits seit Jahrhunderten. Demgegenüber sah sich Dieter
Langewiesche veranlaßt, die neue Qualität der grundlegenden Bevölkerungsumschich¬
tungen im Deutschland des 19. Jahrhunderts mit folgendem Superlativ zu charakterisieren:
"Nach der Jahrhundertmitte begann mit der Binnenwanderungsbewegung die größte Be¬
völkerungsbewegung in der deutschen Geschichte, die den Prozeß der Verstädterung erst
ermöglichte.”2 Die Betrachtung des grenzübergreifenden Untersuchungsraumes von Saar¬
land, Lothringen und Luxemburg stützt diesen Befund. Im Zeitraum von 1860 bis 1910
wuchs beispielsweise die Bevölkerung der Gemeinde Malstatt-Burbach um mehr als das
Elffache, diejenige von Esch um mehr als das Siebenfache und die Einwohnerschaft des
sehr lange durch Festungsanlagen eingeschnürten Diedenhofen immerhin in nur 30 Jahren
auf knapp das Doppelte an. (Tab.6) Eine Bevölkerungsexplosion dieses Ausmaßes konnte
nicht allein durch den natürlichen Bevölkerungszuwachs in Gang gebracht worden sein.
Hierzu war ein immenser Wanderungszustrom notwendig. Zum Bevölkerungswachstum
des im Jahre 1860 weniger als 4.000 Einwohner zählenden Malstatt-Burbach, wo 50
Jahre später fast 40.000 Menschen mehr ansässig waren, trug ein Wanderungsgewinn
von ungefähr 15.000 Personen bei. Allerdings war die Summe von mehr als 270.000 Zu-
und Abzügen erforderlich, um diesen Wanderungssaldo zu erzielen. D.h. die wanderungs¬
bedingte Bevölkerungszunahme bedurfte der geographischen Mobilität von 18 mal mehr
Menschen, als sich schließlich in der Stadt niederließen. Auf insgesamt näherungsweise
144.000 Zuzüge kamen hierbei etwa 129.000 Abzüge aus der Kommune.
Die jährlichen Zuwachsraten in Malstatt-Burbach, aber auch in Esch, lagen in bestimmten
Zeitabschnitten bei über zehn Prozent der Gesamteinwohnerzahl. (Tab.5) Vor allem die
Periode von 1850 bis 1875 und der Zeitraum ab 1890 waren für diese beiden Städte durch
einz.T. bis zu 17prozentiges jährliches Bevölkerungswachstum gekennzeichnet. Dagegen
1 Braudel, Fernand: Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts. Der Alltag, 2. Aufl., München
1990, S.534.
Langewiesche, Wanderungsbewegungen in der Hochindustrialisierungsperiode, S.lf.
53