Full text: Migration und Urbanisierung (23)

die im Bereich der ehemaligen evangelischen Grafschaft Nassau-Saarbrücken in erster 
Linie von Protestanten wahrgenommen worden waren. (S.85ff.) 
Aussagekräftige sozialgeschichtliche Resultate erbrachte die Untersuchung der familiären 
Situation der Migranten, während und nach dem Zuzug, in eine der betrachteten Städte. 
Zwar verzogen viele Menschen nominell allein, d.h. ohne familiären Anhang; ein Großteil 
von ihnen befand sich während der Umzugsphase allerdings entweder in Begleitung eines 
Geschwisterteils oder eines bzw. mehrerer Dorfgenossen. Sehr häufig bildete ein 
Verwandter (oder Bekannter aus der Herkunftsregion) die erste Anlaufstation am neuen 
Arbeits- und Wohnort. Der Wohnortwechsel bedeutete daher wohl in der Regel nicht 
das oft unterstellte radikale Ausbrechen aus intakten Sozialbeziehungen ("Entwuzelung"); 
denn der Migrant wurde häufig von Personen aus seinem angestammten Umfeld in die 
neue Lebenssituation begleitet, in seinem neuen Kontext häufig von vertrauten Menschen 
aufgefangen und somit in die städtische Gesellschaft eingeführt. Zudem läßt die hohe 
Fluktuation der mobilen Bevölkerungsteile erwarten, daß man gerade zu Beginn der 
mobilen Lebensphase, u.U. in einem saisonalen Wanderungsrhythmus, zwischen dem 
industriellen Arbeitsort und der Herkunftsregion pendelte, so daß ein allmähliches 
Hineinwachsen in den neuen urbanen Kontext möglich war. Der geographisch weniger 
ausgedehnte Einzugsbereich der Industriestandorte der Saar-Lor-Lux-Region begünstigte 
diesen Tatbestand in außerordentlicher Weise. Die Begrifflichkeit einer "Individua¬ 
lisierung" der Lebensumstände dürfte der Wanderungsrealität in den jungen Industrie¬ 
städten näher kommen als die scharf akzentuierende, zeitgenössische Formel von der 
"Entwurzelung" der städtischen Unterschichten. Die vielfach diskutierte ausgebliebene 
Proletarisierung im Untersuchungsraum findet hierin einen zusätzlichen Erklärungsansatz. 
(S.92ff.) 
Mit fortschreitender Industrialisierung und Urbanisierung scheint sich die Möglichkeit 
einer Proletarisierung zumindest in den Industriegemeinden Malstatt-Burbach und Esch 
verringert zu haben. Denn aus den Melderegistereinträgen bzw. Volkszählungsakten ist 
zu schließen, daß sich im städtischen Zuwanderungsstrom zur Mittelschicht hin zuneh¬ 
mend ausgewogenere Klassenrelationen einstellten. (S.113f.) Im Laufe der Unter¬ 
suchungsperiode veränderte sich beipielsweise die Zusammensetzung der Immigranten¬ 
schaft mit ihrem Schwerpunkt auf den gewerblichen Berufen zugunsten der Dienst¬ 
leistungsberufe, wenngleich der Arbeiterzuzug bis 1914 in der Regel mehr als die Hälfte 
der Gesamtwanderung ausmachte. (S.102ff.) Charakteristisch für den Urbanisierungs- 
prozeß in Malstatt-Burbach und Esch/Alz. war die Wachstumsdynamik im Bereich von 
Verwaltung (Bürotätigkeiten) und Handel. Insbesondere die unteren Beamten und 
Angestellten gewannen an Gewicht, neue Berufsbilder mit relativ gehobenem Sozial¬ 
prestige entstanden (Verkäufer/Verkäuferin, sozialpflegerische Berufe). (S.124ff.) Im 
Gewerbesektor fällt in erster Linie die massive "Verindustrialisierung" des ehemaligen 
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