die im Bereich der ehemaligen evangelischen Grafschaft Nassau-Saarbrücken in erster
Linie von Protestanten wahrgenommen worden waren. (S.85ff.)
Aussagekräftige sozialgeschichtliche Resultate erbrachte die Untersuchung der familiären
Situation der Migranten, während und nach dem Zuzug, in eine der betrachteten Städte.
Zwar verzogen viele Menschen nominell allein, d.h. ohne familiären Anhang; ein Großteil
von ihnen befand sich während der Umzugsphase allerdings entweder in Begleitung eines
Geschwisterteils oder eines bzw. mehrerer Dorfgenossen. Sehr häufig bildete ein
Verwandter (oder Bekannter aus der Herkunftsregion) die erste Anlaufstation am neuen
Arbeits- und Wohnort. Der Wohnortwechsel bedeutete daher wohl in der Regel nicht
das oft unterstellte radikale Ausbrechen aus intakten Sozialbeziehungen ("Entwuzelung");
denn der Migrant wurde häufig von Personen aus seinem angestammten Umfeld in die
neue Lebenssituation begleitet, in seinem neuen Kontext häufig von vertrauten Menschen
aufgefangen und somit in die städtische Gesellschaft eingeführt. Zudem läßt die hohe
Fluktuation der mobilen Bevölkerungsteile erwarten, daß man gerade zu Beginn der
mobilen Lebensphase, u.U. in einem saisonalen Wanderungsrhythmus, zwischen dem
industriellen Arbeitsort und der Herkunftsregion pendelte, so daß ein allmähliches
Hineinwachsen in den neuen urbanen Kontext möglich war. Der geographisch weniger
ausgedehnte Einzugsbereich der Industriestandorte der Saar-Lor-Lux-Region begünstigte
diesen Tatbestand in außerordentlicher Weise. Die Begrifflichkeit einer "Individua¬
lisierung" der Lebensumstände dürfte der Wanderungsrealität in den jungen Industrie¬
städten näher kommen als die scharf akzentuierende, zeitgenössische Formel von der
"Entwurzelung" der städtischen Unterschichten. Die vielfach diskutierte ausgebliebene
Proletarisierung im Untersuchungsraum findet hierin einen zusätzlichen Erklärungsansatz.
(S.92ff.)
Mit fortschreitender Industrialisierung und Urbanisierung scheint sich die Möglichkeit
einer Proletarisierung zumindest in den Industriegemeinden Malstatt-Burbach und Esch
verringert zu haben. Denn aus den Melderegistereinträgen bzw. Volkszählungsakten ist
zu schließen, daß sich im städtischen Zuwanderungsstrom zur Mittelschicht hin zuneh¬
mend ausgewogenere Klassenrelationen einstellten. (S.113f.) Im Laufe der Unter¬
suchungsperiode veränderte sich beipielsweise die Zusammensetzung der Immigranten¬
schaft mit ihrem Schwerpunkt auf den gewerblichen Berufen zugunsten der Dienst¬
leistungsberufe, wenngleich der Arbeiterzuzug bis 1914 in der Regel mehr als die Hälfte
der Gesamtwanderung ausmachte. (S.102ff.) Charakteristisch für den Urbanisierungs-
prozeß in Malstatt-Burbach und Esch/Alz. war die Wachstumsdynamik im Bereich von
Verwaltung (Bürotätigkeiten) und Handel. Insbesondere die unteren Beamten und
Angestellten gewannen an Gewicht, neue Berufsbilder mit relativ gehobenem Sozial¬
prestige entstanden (Verkäufer/Verkäuferin, sozialpflegerische Berufe). (S.124ff.) Im
Gewerbesektor fällt in erster Linie die massive "Verindustrialisierung" des ehemaligen
322