Spezifika des Wanderungsgeschehens in verstädternden Industriedörfern
Sofern man die Wanderungsbewegungen in Relation zur jeweils ortsansässigen Bevölke¬
rung setzt, war die Mobilität in Malstatt-Burbach, Diedenhofen und Esch/Alz. während
der Untersuchungsperiode sowohl hinsichtlich ihres Umfangs als auch hinsichtlich ihres
Beitrags zur Steigerung der Einwohnerzahl (Wanderungsgewinn) durchaus vergleichbar
mit Migrationen im großstädtischen Bereich. (S.59ff.) Darüber hinaus bestanden aber
anscheinend grundlegende Unterschiede zwischen Großstadtwanderungen und dem
Geschehen in den rasch auf klein- bis mittelstädtisches Niveau wachsenden Industriedör-
fem des Saar-Lor-Lux-Raumes. Das Gewicht der verschiedenen Wanderungskom¬
ponenten (Zuzug und Abzug), der Zusammenhang zwischen Wirtschafts- und Bevölke¬
rungsentwicklung sowie die Genese saisonaler Migrationsmuster differierten offenbar
je nach Verstädterungsgrad erheblich.
Zum einen erwies sich im regionalen Zusammenhang als unzutreffend, daß die Zuzugs¬
komponente den flexibleren Teil im Migrationskontext von Städten der Industrialisie¬
rungsphase ausmachte - eine Erkenntnis, zu der Dieter Langewiesche aufgrund seiner
Großstadtforschungen gelangt war. Am Beispiel Malstatt-Burbachs konnte nachgewiesen
werden, daß sich zumindest nach der industriellen "Gründerphase" (1856-1880) die Ab¬
wanderung konjunkturell äußerst anpassungsfähig zeigte, während die Zuwanderungs¬
entwicklung eher an einen kontinuierlich steigenden Trend angekoppelt und zugleich recht
unempfindlich gegen Konjunkturimpulse war. (S.62ff.)
Zum anderen wurde deutlich, wie eng die Bevölkerungsentwicklung in den Industriege¬
meinden mit ihrer ökonomischen Monostruktur von der Geschäftslage einer einzigen
wirtschaftlichen Führungsbranche, d.h. zumeist eines einzigen bzw. einiger weniger
Betriebe, abhing. Die Große Rezession, die zwischen 1873 und 1895 vor allem die
Montanindustrie erschütterte, zeitigte daher in den betrachteten Kommunen gesamtörtlich
ein gewandeltes Wanderungsverhalten, während die rezessive Wirtschaftsentwicklung
in den Metropolen aufgrund einer Vielzahl von "Ausweichbranchen" weniger ausgeprägte
Migrationsphänomene nach sich zog. Für die saarländische Gemeinde konnte für den
Zeitraum zwischen der Mitte der 1870er Jahre und der Mitte der 1890er Jahre ein
sukzessiver Strukturanpassungsprozeß nachgewiesen werden, im Zuge dessen es in
Reaktion auf die Wirtschaftskonjunktur vor Ort zu einem verzögerten Wandel der
Mobilitätsmuster kam. Der Konnex zwischen lokaler Wirtschafts- und Bevölkerungs¬
entwicklung wurde in dieser Art zuvor noch nicht herausgearbeitet, was sicherlich auch
daran liegt, daß das Phänomen im stark diversifizierten - und in der Vergangenheit
vorzugsweise beachteten - Großstadtmilieu nicht in der isolierten Weise auftreten konnte
wie in den Untersuchungsstädten. (S.71ff.)
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