A.
Einleitung - Intention, wissenschaftlicher Kontext
und Aufbau der Studie
a) Fragestellung und Intention
In der Urbanisierungsforschung der letzten 20 Jahre wurde der Frage nach dem Verhältnis
von Industrialisierung, Bevölkerungsbewegungen und Stadtentwicklung stets ein hoher
Stellenwert beigemessen. Thesenhaft umschrieb Wolfgang Köllmann dieses Beziehungs¬
geflecht in einem Artikel zur deutschen Bevölkerung im Industriezeitalter folgenderma¬
ßen: "Seit den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts wird auch die Geschichte der deutschen
Bevölkerung wesentlich durch die Industrialisierung bestimmt. Vor allem zwei inein-
andergreifende Prozesse, durch die die Bevölkerung bedeutende Umschichtungen erfuhr,
wurden durch die Entstehung neuer industrieller Standorte ausgelöst: Binnenwanderung
und Verstädterung."1
Die vorliegende Studie setzt geographisch in einem Raum an, der sich erst durch die
Industrialisierung konstituierte. Forschungsgegenstand ist damit ein funktionaler Raum,
der seine Abgrenzung nicht schon im voraus durch Verwaltungsgrenzen erfahren hatte
und daher nicht unmittelbar über eine lineare Grenze verfügte, auch wenn man ihn als
nahezu deckungsgleich mit dem heutigen Saarland, dem zwischen 1870 und 1918
größtenteils vom Deutschen Reich annektierten Lothringen und dem Staat Luxemburg
ansehen kann. Diese Region wurde zwar erst in den 1950er Jahren im Zuge der euro¬
päischen Einigung und angesichts der Saarfrage als wirtschaftlich ziemlich homogenes
Gebiet seitens der europäischen Öffentlichkeit wahrgenommen und infolgedessen mit
dem Terminus "Saar-Lor-Lux-Raum" belegt, sah sich aber in ihrer Gesamtheit bereits
ab der Mitte des 19. Jahrhunderts einem rasanten Industrialisierungsprozeß unterworfen,
welcher der Ausbildung gemeinsamer Binnenstrukturen erheblichen Vorschub leistete.2
Die Städte und Gemeinden der Region, die sich unter diesen Umständen zu industriellen
Standorten entwickelten, gewannen eine zunehmende Attraktivität für Arbeitskräfte. Sie
1 Köllmann, Wolfgang: Die deutsche Bevölkerung im Industriezeitalter, in: ders., Bevölkerung
in der industriellen Revolution, Studien zur Bevölkerungsgeschichte Deutschlands, Göttingen
1974, S.35-46, hier: S.37. Vgl. auch Langewiesche, Dieter: Mobilität in deutschen Mittel- und
Großstädten, in: Arbeiter im Industrialisierungsprozeß, Herkunft, Lage und Verhalten, hg. von
Werner Conze u. Ulrich Engelhardt, Stuttgart 1979, S.70-93, hier: S.72 und Marschalck, Peter:
Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1984, S.45ff.
2 Die Benennung des Saar-Lor-Lux-Raumes ist maßgeblich im Zusammenhang mit der Grün¬
dung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, Montanunion) zu sehen. Ein¬
blick in die Begriffsbildung gewährt Hellwig, Fritz: Wirtschaftsentwicklung und Grenzen im
Raum Saarland-Lothringen-Luxemburg, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 111/1975,
S.159-171.
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