2.2.5. Die Forschungskontroverse um den Grammatiktraktat „Aurora-doceo-vigilans“
An letzter Stelle führt der Anonymus eine grammatische Schrift auf, die er folgender¬
maßen charakterisiert: . . . fecit et excerptionem Prisciani super octo partes Donati, ipsas
octo partes octonis incipiens verbis metrica lege sic ligatis: Aurora, doceo, vigilans, ego,
per, satis, o, si.113 Die wörtliche Zitierung des Incipits legt nahe, daß ein Exemplar dieses
Traktats Ende des 11. Jahrhunderts in der Mettlacher Klosterbibliothek vorlag. An
seinem Beispiel lassen sich die Eigentümlichkeiten der literaturgeschichtlichen Rezeption
des Remigius exemplarisch demonstrieren: Die nur lokal im Trier-Mettlacher Raum ver¬
breiteten Miracula erfahren im Zuge der Bursfelder Reformbemühungen um 1500 eine
erneute handschriftliche Fixierung, die - wie bereits dargelegt - von der Erstfassung des
11. Jahrhunderts durchaus textrelevante Abweichungen aufweist. Die etwa gleichzeitig in
Verbreitung gelangten Schriften des Trithemius überlagern den Mettlacher Originaltext
in den folgenden Jahrhunderten gänzlich, was zur Folge hat, daß sich nicht nur übel beleu¬
mundete Vielschreiber wie Arnold Wion113 114 im 16. Jahrhundert und auch noch Autori¬
täten wie Brower, Hontheim und Calmet im 17./18.Jahrhundert auf die Formulierungen
des Trithemius stützen, sondern gar noch bis in unsere Gegenwart der seit Sauerland vor¬
liegenden MGH-Edition keine Beachtung geschenkt wird. Dieser „Verdrängungsprozeß“
hat nirgendwo gravierendere Folgen gezeitigt als bei der korrekten Interpretation des re-
migianischen Grammatiktraktats. Betrachten wir nämlich einmal, was der Sponheimer
Abt aus der präzisen und stimmigen Mettlacher Vorlage gemacht hat: „Excerptionem
quoque Prisciani lib.l super Donato commentum lib.I“,115 und dann vor allem: „In Pris-
cianum Grammaticum Commentarios edidit. Super Donatum quoque maiorem et mi-
norem.“116
Diese Zuschreibung bringt den Mettlacher Abt in direkte Konkurrenz zu den bekannten
Donat- und Prisciankommentaren des Remigius von Auxerre, über die mehrere vorzüg¬
liche Studien von Jeudy vorliegen, die sich im Rahmen ihrer Tätigkeit am Institut de Rech¬
erche et d’Histoire des Textes in Paris auf die Erfassung auch apokrypher Schriften des
Auxerrer Klosterlehrers spezialisiert hat.117 Ein reiches Betätigungsfeld bieten ihr die mit¬
telalterlichen Bibliothekskataloge, die vielerorts Eintragungen wie diese aufweisen: „Re¬
migius in/super Donatum“, „Expositio Remigii super Donatum“, „Editio Prima Remigii
super Donatum“, „Commentum Remigii super VIII partes orationis et super Priscianum
113 MGH SS XV,2, S. 1266, Z. 16-19
114 vgl. Histoire Littéraire VI, S. 120 unter Bezug auf Arnold Wion, Lignum Vitae, Venedig 1595,
Bd. II, S. 890 (Zuschreibung des Auxerrer Priscian-Kommentars zu Remigius von Mettlach)
115 Trithemius, Opera Historica I, S. 131
116 Trithemius, Annales Hirsaugienses I, S. 122; die Schlegel-Edition von 1690 erfuhr die weiteste
Verbreitung an den europäischen Bibliotheken.
117 Remigius von Auxerre verfaßte u.a. Kommentare zur Ars minor des Donatus (ed. W. Fox,
Leipzig 1902; vgl. Jeudy, Israel le grammairien), zur Ars maior (vgl. Jeudy, Un nouveau manus¬
crit) und zu Priscians Partitiones (vgl. jeudy, Tradition manuscrite). S. auch dies., Commentat¬
eurs de Donat u. Nouveaux fragments sowie de Marco, Remigii inedita u. Huygens, Remigiana.
Über den mittelalterlichen Grammatikunterricht informiert die grundlegende Studie von Holtz,
Donat et la tradition.
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