Während des Stromausfalles waren die Monteure der Stadt wie auch der SLE in erster
Linie mit Ausbesserungs- und Reparaturarbeiten beschäftigt. Beispielsweise wurden
die Ortsnetze in Bliesransbach und Eschringen von Eisen- in Kupferleitungen umgerü¬
stet. Auch nach Ende des Bergarbeiterstreikes konnten die MDF nicht sofort die erfor¬
derlichen Mengen elektrischer Arbeit zur Verfügung stellen, da verschiedene Koks¬
öfen des Kraftwerkes Heinitz durch den langen Stillstand schwer beschädigt waren und
fast gänzlich erneuert werden mußten79. Erst am 04. Juli 1923 erreichte die SLE wie¬
der die normale tägliche Strommenge, mußte jedoch die Abnehmer auffordern, den
Strombezug zwischen 09.00 Uhr und 11.00 Uhr vormittags möglichst einzuschränken,
da in dieser Zeit bei den Gruben die höchste Belastungsspitze auftrat.
Die Stadtverwaltung nahm aufgrund der Erfahrungen der Streikwochen Verhandlun¬
gen mit der ortsansässigen, Eigenstrom erzeugenden Industrie wie auch mit benachbar¬
ten Kraftwerken auf. Am 12.06.1923 unterrichtete Oberbürgermeister Neikes die SLE
von dem Plan der Stadt, ein eigenes Kraftwerk zu errichten oder sich an einem anderen
Kraftwerk zu beteiligen und lediglich Spitzenstrom von der SLE zu beziehen. Die Stadt
sehe ihren Einfluß auf die SLE auf ein Minimum reduziert und habe, unter anderem
auf Grund der rein französischen Verhandlungsführung, kein Vertrauen mehr. Unter
dem Gesichtspunkt, „Wirtschaftlichkeit ist zweitrangig, Sicherheit ist wichtiger“, war
der Entschluß zum Bau eines 6.000 kW-Kraftwerkes gereift, wovon 3.000 kW als Reser¬
ve vorgesehen waren, um den Stromlieferungsvertrag mit der SLE nicht zu verletzen.
Die SLE versuchte mit verschiedenen Gegenrechnungen, unter anderem einer ge¬
druckten Broschüre „Stromversorgung der Stadt Saarbrücken“, die den Stadtverord¬
neten überreicht wurde, zu beweisen, daß die Eigenerzeugung unverhältnismäßig
teuer komme80.
Die Forderungen von Neikes, der inzwischen offensichtlich mit den Röchlingschen
Eisen- und Stahlwerken in Völklingen Kontakt wegen Stromlieferung auf genommen
hatte, gipfelten im Herbst 1923 in der Feststellung, die Stadt könne ihre Stromversor¬
gung nur als gesichert ansehen, wenn 1. die Stadt Saarbrücken die Mehrheit des Kapitals
bei der SLE habe, 2. Verträge über Stromlieferung im Notfall direkt mit der Stadt abge¬
schlossen würden und 3. eine wesentliche Ermäßigung der Strompreise des Vertrages
vom 20. Juni 1922 erfolge81. Die Stadt pokerte hoch, war es doch den MDF laut § 8,
Kapitel 2 der Anlage zu Artikel 45 und 50 des Versailler Vertrages erlaubt, ihre Leitun¬
gen überall zu verlegen. Allein der Verlust der zehn größten Abnehmer der Stadt an
die MDF hätte 50 % der Stromabgabe ausgemacht; der Einsatz aber gelang: Die SLE
kam der Stadt nach Rücksprache mit ihren Aktionären weitestgehend entgegen — nur
die Kapitalbeteiligung bis zur Mehrheit war natürlich ausgeschlossen. Saarbrücken
wurden drei weitere Aufsichtsratmitglieder zugestanden und die Forderung nach di¬
rekten Zusatzverträgen mit den Kraftwerken La Houve, Saarlouis und Homburg
sowie eine Reservekapazität von 3.000 kW anerkannt. Auch bei den Preisen wollte die
SLE nachgeben. Am 07. November 1923 trat die Stadt Saarbrücken gleichwohl vom
Stromlieferungsvertrag mit Wirkung vom 07. November 1924 zurück; am 26. Februar
1924 stimmte die Stadtverordnetenversammlung dem Stromlieferungsvertrag mit
79 Ebd., Vorlage zur Aufsichtsratssitzung v. 18.06.1923.
80 Die Broschüre befindet sich im StadtA Sbr. BG 7127, September 1923.
81 StadtA Sbr. BG 7127, 11.10.1923.
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