Die Varianten aus Tholey und aus Beaulieu erklären sich aus unterschiedlichen
sprachlichen Entwicklungen und orthographischen Gewohnheiten der Merowin¬
gerzeit476. Ihre sprachgeschichtlichen Archaismen sichern zudem ihre zeitliche
Einordnung in das 7. Jahrhundert477.
Die Abfolge der Abte Chrothmerus, Craudingus und Crodowin (Frodoin) in
Tholey läßt an einen Familienzusammenhang denken, wie er im Falle der beiden
letzteren ja glaubwürdig belegt ist. Suchen wir nach dieser Familie, deren Namen
durch das Namenelement (Ch)röd- geprägt sind, außerhalb der geistlichen Ge¬
meinschaften von Tholey und Beaulieu, so müssen Personen auffallen, die einer¬
seits seit dem 6. Jahrhundert politisch gestaltend im südaustrasischen Raum tätig
waren und andererseits seit dem Ende des 7. Jahrhunderts prägend auf die Ge¬
schichte Weißenburgs, eines weiteren Vogesenklosters, Einfluß nahmen, das um
661 auf der Ostseite des Waldgebirges im Speyergau gegründet wurde, mit lothrin¬
gischen Familien aber noch mehr als ein Jahrhundert in engen Beziehungen stand.
Gregor von Tours widmete um 593 einem fränkischen Adligen namens Chrodinus
anläßlich dessen Todes im Jahre 582 einen überaus umfangreichen Nachruf478:
Eo anno Chrodinus obiit, vir magnifice bonitatis et pietatis, aelimosinarius
valde pauperumque refector, profluus ditatur e etesiarum, clericorum nutritur.
Nam sepe a novo fundans villas, ponens vinias, aedificans domus, culturas ere-
gens, vocatis episcopis, quorum erat parva facultas, dato epulo, ipsas domus
cum culturibus et culturis, cum argento, parastromatibus, utensilibus, ministris
et famolis benigne distribuebat, dicens: „Sint haec aeclesiae data, ut, dum de
his pauperes reficiuntur, mihi veniam obteneant apud Deum“. Multa enim et
alia bona de hoc viro audivimus, quae insequi longum est. Transiit autem ae¬
tate septuagenaria.
Chrodinus, der um 512, noch zu Clodwigs Zeiten geboren sein muß479, galt also
bei Gregor als frommer Mann, als Spender vieler Almosen, als Wohltäter der Ar¬
men. Wir hören von ihm, daß er sich im Landesausbau durch die Anlage neuer
Höfe engagierte; daß er eine Kirchenpolitik betrieb, welche durch großzügige
476 Dabei hat es sowohl in Beaulieu als auch in Verdun eine kontinuierliche Entwicklung nach
romanischen Lautgesetzen von Chraudingus > Craudingus/Graudingus mit Lautersatz
[kr] / [gr] für germ [ehr] und Crodmgus/Ghrodingus mit Monophthongierung /au/ >/ö/ ge¬
geben, daneben aber auch eine Neuentlehnung aus den im Laufe des 8. und frühen 9. Jahrhun¬
derts sich entwickelnden fränkischen Formen Chrauding > Hrauding > Hroding > Ro-
dmg, die zu Rodingus und späterem Raum führten. Die ,Vita S. Chraudingi1, welche die älte¬
ste Namensform benutzt, der die kontinuierliche, mündliche Entwicklung entspricht, hat
daher sicherlich nicht nur mündliche Tradition ausgewertet, sondern auch älteste schriftli¬
che Notizen, etwa eine Gründungsnotiz. Ebenso kann die Tholeyer Abtsliste in ihren älte¬
sten Bestandteilen nur in schriftlicher Form dem späteren Redaktor Vorgelegen haben, da
die spätere althochdeutsche sprachliche Entwicklung im Namen nicht aufscheint.
477 Vgl. o. S. 47 f.
478 Gregor, Hist. Franc. VI 20, ed. Büchner II 38. Vgl. Weidemann, Kulturgeschichte I 58.
479 Vgl. Irsigler, Untersuchungen 145. 224.
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