sehen dem protestantisch geprägten Saarbrücker Bürgertum, das in seiner betont natio¬
nalen Gesinnung und in seiner liberal-aufklärerischen Grundhaltung mehr Wert auf ein
ungetrübtes Verhältnis zu dem preußischen Staat und seinen Traditionen legte30 als auf
eine engere Verbindung mit der aus ländlichen Gebieten eingewanderten Arbeiterschaft,
deren Mentalität, geprägt durch die Verbundenheit zum Katholizismus und zu lokal fi¬
xierten Loyalitäten, ihm fremd bleiben mußte. Die Barrieren zwischen den Gesellschafts¬
gruppen, die sich vor allem in den heftigen Auseinandersetzungen um wahlpolitische Vor¬
teile und den katholischen und sozialistischen Bemühungen um die gewerkschaftliche
Koalitionsbildung der Arbeiter widerspiegeln31, sind es, die die Entfaltung Saarbrückens
zur Metropole des mittleren Saarraumes bis 1918 verhindern. Das gewollte Eigenleben
des Saarbrücker Bürgertums, das in kleinerem Maßstab Parallelen im gesamten Gebiet
des ehemaligen Fürstentums Nassau-Saarbrücken fand, ist der eigentliche Ausgangs¬
punkt für die soziale Ausnahmeerscheinung des saarländischen Industrialisierungspro¬
zesses. Seine fast oligarisch anmutende Steuerung durch eine gesellschaftliche Ober¬
schicht32 führte dazu, daß selbst in den Kernzonen des saarländischen Industriegebietes
jene typischen Wandlungs- und Integrationswirkungen verpufften, wie sie in ähnlich
strukturierten Räumen im allgemeinen für das soziale, wirtschaftliche und kulturelle
Leben der Wilhelminischen Zeit beobachtet werden konnten. Die bewußte Isolierungs¬
strategie, die den eingewanderten, meist katholischen Arbeiter von der aktiven Teilnahme
am bürgerlichen Leben Saarbrückens mehr oder weniger ausschloß, hat vor allem für die
Kulturgeschichte des Saarraumes nachteilige Wirkungen gehabt. Dabei werden die nega¬
tiven Folgen sofort einsichtig, wenn man sich die kulturpolitische Lage vor Augen hält,
in der der Saarraum um die Jahrhundertwende verharrte. Während das protestantisch ge¬
prägte Saarbrücken mit seinem überwiegend national und liberal empfindenden Bür¬
gertum ohne die Basis eines konfessionsgleichen Hinterlandes zwangsläufig in seiner kul¬
turellen Anziehungskraft unattraktiv bleiben mußte, orientierten sich die von einer katho¬
lischen Mehrheit bewohnten Einzugszonen der späteren saarländischen Hauptstadt und
erst recht die katholischen Kreise des heutigen Saarlandes ungebrochen zu den traditio¬
nellen, aber zum Teil wesentlich entfernter gelegenen Kirchen- und Verwaltungszentren
Trier und Speyer. Sie gerieten damit kulturell gesehen in eine Randlage, die sie, wenn auch
unter völlig entgegengesetzten Vorzeichen und andersgelagerten Ansprüchen, in ein ähn¬
liches geistig-kulturelles Schattendasein drängte wie die Bürger der Stadt Saarbrücken.
Verstärkt wurde diese durch politische, soziale und religiöse Gegensätze bewirkte „Lage
des Saarlandes im Kulturschatten“33 durch die Zugehörigkeit zu den zentralistisch ver¬
walteten Staaten Preußen einerseits und Bayern andererseits. Sowohl die extreme Abseits¬
lage der Region als Teil der preußischen Rheinprovinz bzw. bayerischen Pfalz wie auch
die Tatsache, daß der Zugang zu den führenden Beamtenpositionen in der öffentlichen
Administration und in der staatlichen Bergwerksverwaltung fast ausnahmslos einer Aka¬
demikerschaft Vorbehalten blieb, die fremd ins Saargebiet kam, nahmen jeder bildungs¬
30 J. Bellot, S. 246 u. F. Stahl, S. 172 ff.
31 Vgl. dazu die Wahlstatistiken bei J. Bellot, S. 247 ff. in Verbindung mit H.-W. Herrmann
und G. W. Sante, Saarland, S. 28 f.
32 Vgl. das Urteil von J. Bellot, S. 243 f.
33 M. Zenner, Parteien, S. 23.
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