die durch die feste Bindung der Saarbevölkerung an ihre angestammten Sitten, Ge¬
bräuche, religiöse Überzeugungen und Erziehungsgrundsätze belegt ist.
Angesichts der Industrialisierung und Urbanisierung weiter Teile des heutigen Saarlandes
sind dies erstaunliche Feststellungen und man fragt sich, warum das öffentliche Leben in
dieser Region im Vergleich zu anderen Gebieten mit ähnlicher Entwicklung einen spürbar
geringeren Anteil an den historischen Prozessen des modernen Zeitalters nahm, warum
vor allem der Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft, die Etablierung zeitge¬
mäßer Staats- und Verwaltungsstrukturen, der nationale Einigungsprozeß und auch der
fortschreitende Säkularisierungsprozeß hier weniger deutliche Spuren hinterließen. Eine
der gewichtigsten Ursachen gründet in der Sozialgeschichte des Saarraumes, die sich trotz
der Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung in ihrem Verlauf deutlich abhob von den
charakteristischen Tendenzen zur Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts. Günstige
Umstände wie die Naheinwanderung der Arbeiterschaft, das umsichtige soziale Handeln
der staatlichen preußischen Bergwerksverwaltung und nicht zuletzt die gezielte Eigen¬
tumsförderung in Arbeitnehmerhand durch die Unternehmerschaft förderten im Saarge¬
biet von Anfang an eine bemerkenswerte betriebliche und heimatliche Verwurzelung des
Arbeiters25. Sie war die entscheidende Voraussetzung für ein soziales Miteinander, das
sich im Rahmen eines patriarchalischen Regiments einer kleinen Wirtschaftselite und in
der allgemeinen Orientierung der Saarbevölkerung an ständische Ordnungskategorien
ungebrochen in den Bahnen überwiegend konservativer Grundhaltungen und Hierarchie¬
vorstellungen vollzog26.
Die von Tradition und Stetigkeit gekennzeichnete Begegnung von Unternehmertum und
Arbeiterschaft führte aber nicht dazu, daß trotz wachsender gemeinsamer wirtschaftli¬
cher und sozialer Interessen die historisch bedingte Vielfalt des kulturellen und politischen
Lebens an der Saar geschwächt wurde. Es existierte fast unvermindert in der Betonung
seiner moselländischen, pfälzischen, lothringischen und Saarbrücker Ausprägungen und
Eigenarten weiter. Die politisch und vor allem kulturell spürbar bleibenden Trennlinien27
dieses Gebietes, die auch durch die staatliche und verwaltungsmäßige Durchdringung
aufgrund der preußischen und bayerischen Gegenwart bis in die Tage des Ersten Welt¬
krieges nicht überwunden werden konnten28, gründen vor allem in der Tatsache, daß sich
im 19. Jahrhundert ein geistig-kultureller Mittelpunkt an den Ufern der Saar nicht entwik-
keln konnte, der durch seine Anziehungs- und Integrationskraft die angestammten so¬
zialen, heimatlichen und religiös-kulturellen Bindungen zu einer saarländischen Identität
hätte zusammenschmelzen können.
Auch Saarbrücken, von 1381 bis zum Jahre 1793 Residenz des protestantischen Fürsten¬
tums Nassau-Saarbrücken29 und nach einer kommunalen Reform mit den umliegenden
Städten St. Johann und Malstatt-Burbach im Jahre 1909 zur Großstadt gewachsen,
konnte diese Führungsrolle nicht übernehmen. Zu ausgeprägt blieb der Gegensatz zwi-
25 Zur Entwicklung von Bergarbeitersiedlungen an der Saar neuerdings K. Fehn
26 Vgl. hierzu M. Zenner, Parteien, S. 21 f. mit zahlreichen Literaturhinweisen zur Sozialge¬
schichte der saarländischen Arbeiterschaft (S. 21, Anm. 4). Siehe auch E. Straus, Gliederung,
S. 121.
27 J. Bellot, S. 245.
28 Grundlegend J. Bellot, passim.
29 Bis zum Jahre 1688 Grafschaft.
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