die ’Eigenkultur des saarländischen Volkes’ herhalten, um zu beweisen, daß die Saar von
Deutschland kulturell abgesondert bleiben müsse.12.
Die sogenannte deutsche Opposition im Saarland und in Deutschland ist mit ihrem Bild
von der vor ihrem Nationalgewissen vergewaltigten saarländischen Bevölkerung in die
Abstimmungsentscheidung vom 23. Oktober 1955 gezogen, und hat dabei-triumphiert.
Das ersehnte Ziel, die Rückkehr der Saar nach Deutschland war damit zwar noch nicht
definitiv erreicht, offengelegt war aber für sie der intakte Wille der Saarländer zur natio¬
nalen Solidarität. Mit ihrer klaren Absage gegen ein saarländisches Eigendasein im
Rahmen eines nach Ansicht der Oppositionellen fragwürdigen europäischen Statuts
hatten sich die „Saardeutschen“ genau so verhalten, wie das in der deutschen Publizistik22 23
und in den zahlreichen Abhandlungen über das damalige Geschehen an der Saar vor und
nach der siegreich bestandenen „Abstimmungsschlacht“ immer wieder als zwingend pro¬
gnostiziert worden ist. Adenauer und auch andere CDU-Politiker, die seit 1952 den Rück¬
kehrwillen der Saarländer in Zweifel gezogen hatten, waren nun endlich durch ein empi¬
risch bestätigtes Wahlergebnis widerlegt. Das Resultat vom 23. Oktober 1955, das man
jetzt als Ausdruck der Selbstbefreiung einer unterjochten saarländischen Bevölkerung
feiern konnte, und die sich seit 1950 verfestigende öffentliche Meinung von einer absolut
deutschtreuen Saar haben entscheidend dazu beigetragen, daß im Saarland und vor allem
in Deutschland die Geschichte der Saar nach 1945 oft nur mit den Augen von 1955 ge¬
sehen wird. Aber sprechen die historischen Ereignisse tatsächlich nur für die geschichtlich
Erfolgreichen vom 23. Oktober?
Einer der wenigen Autoren, die in der einschlägigen Literatur die saarländische Nach¬
kriegspolitik als Faktum einer autonom wirkenden Gestaltungskraft anerkannt haben,
die aus der Erkenntnis und Zielsetzung eigener Interessen auf die von Frankreich ener¬
gisch geforderte Zusammenarbeit einging, ist Jacques Freymond gewesen24. Er bestätigt
in seiner Untersuchung die von Adenauer schon im Jahre 1952 geäußerte Befürchtung,
daß die Mehrheit der Leute an der Saar uns gar nicht will25. Selbst Heinrich Schneider
räumt, wenn auch mit gänzlich anderen Begründungen, ein, daß die Rückkehr der Saar
nach Deutschland keineswegs absolut sicher war26. Diese Einschätzung hat ja auch dazu
geführt, daß er sein Buch „Das Wunder an der Saar“ nannte. Eine Beurteilung der saarlän¬
dischen Politik von 1945 bis 1955 muß nicht unbedingt im Sinne der Meinung Johannes
Hoffmanns ausfallen, wonach der 23. Oktober 1955 der Endpunkt einer Entwicklung ge¬
22 Die Zeit Nr. 27 (Artikel „Späte Einsicht“).
23 Vgl. hierzu A. H. V. Kraus, passim.
24 J. Frey mond, passim, insbesondere S. 84 ff., S. 222, S. 246 ff. und S. 277 ff.
25 Stenographische Niederschrift über die Sitzung des CDU-Bundesvorstandes am 26. 1. 1953, S.
201. Archiv des Konrad-Adenauer-Hauses, Bonn.
26 H. Schneider, S. 14. Schneider beruft sich in seiner Argumentation u.a. auf eine repräsen¬
tative Umfrage des Aliensbacher Instituts für Demoskopie, die im April 1955, also 6 Monate vor
der entscheidenden Abstimmung über das Saarstatut, durchgeführt worden ist. Danach wollten
20 % der saarländischen Bevölkerung für und 21 % gegen das Statut stimmen. 59 % erklärten
sich noch für unentschlossen. Schneider, der dieses Umfrageergebnis als Beleg für seinen er¬
folgreichen politischen Kampf gegen das Statut reklamiert, verschweigt freilich die vom Institut
prognostizierte Mehrheit gegen das Statut, die es vor allem mit der Entscheidungstendenz der
überwiegenden Zahl der Unentschlossenen gegen das Statut begründet. Vgl. dazu die Ergebnisse
der Einzelfragen und den Umfragebericht des Instituts Allensbach. Die Stimmung im Saargebiet,
April 1955. Bundesarchiv Koblenz, Zsg. 132/416 I.
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