Hermann Weber
Die französische Rheinpolitik zwischen dem Westfälischen Frie¬
den und dem Renversement des Alliances
Die Themenstellung enthält, falls man sie beim Wort nimmt, eine These. Rheinpoli¬
tik zwischen Westfälischem Frieden und Renversement des Alliances, Rheinpolitik
also zwischen zwei einschneidenden Ereignissen der europäischen Geschichte, das
setzt voraus und behauptet, daß das, was französische Rheinpolitik genannt wird,
keine lokale Territorialpolitik ist und nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern
daß es in den Zusammenhang der französischen europäischen Politik gehört und
daher auch nur in diesem Zusammenhang gesehen und interpretiert werden kann.
Französische Rheinpolitik als Teil einer französischen europäischen Politik —
stimmt das, trifft das zu, ist das der angemessene Rahmen? Oder ist das doch nur eine
Verschleierung sehr viel einfacher zu beschreibender und zu erklärender Vorgänge: die
Besetzung des Elsaß, die Reunionen, die Pfalzverbrennung etwa — sind das nicht
Ausdrucksweisen einer ganz simplen Agressionspolitik eines auf territoriale Erwer¬
bungen ausgehenden Machtstaates?
Was wäre denn eine französische europäische Politik in den Jahren 1648 und 1756?
Es ist sicher das Verdienst Fritz Dickmanns, den Westfälischen Frieden in diesem
Sinne neu interpretiert zu haben1. Gegenüber einer Auffassung, die hier nur die Zer¬
stückelung des Reiches erkennen wollte, hat er in den Westfälischen Verträgen ein
bereits von Richelieu angelegtes Friedenssystem gesehen, das zwar von Frankreich
bestimmt, aber doch auch durch völkerrechtliche Verpflichtungen der Signatarmächte
garantiert sein sollte. Und 1756? Der Vertrag zwischen Frankreich und Österreich
sollte, so hieß es in der Instruktion des französischen Außenministers Rouillé für den
Chevalier d’Aigremont, der Ende 1756 an den Trierer Hof gesandt wurde, détruire le
germe des divisions des deux cours, qui, formentées par les artifices des puissances qui
s’accroissaient de leurs débris, avaient causé toutes les guerres qui ont désolé l’Europe
depuis près de 300 ans2. Europäische Dimension in weitestem Sinne also auch hier im
Augenblick des Renversement des Alliances.
Man kann eine andere Instruktion aus dem gleichen Jahr heranziehen, um das
System der französischen Politik nicht nur während der Jahrzehnte zwischen 1648
und 1756, sondern während dieser ganzen 300 Jahre zu charakterisieren, auf die sich
die Instruktion für d’Aigremont hier bezieht. Es handelt sich um eine Instruktion des
1 Fritz Dickmann, Der Westfälische Frieden. Münster3 1972. Ders., Rechtsgedanke und
Machtpolitik bei Richelieu. Studien an neu entdeckten Quellen, in: HZ 196, 1963,
S. 265—319, Ders., Friedensrecht und Friedenssicherung. Studien zum Friedensproblem in der
neueren Geschichte. (Kleine Vandenhoeck Reihe 321) Göttingen 1971, S. 36—78.
2 Mémoire pour servir d’instruction au Sr d’Aigremont, Chevalier etc., allant résider près de
L’Electeur de Trêves en qualité de Ministre plénipotentiaire de Sa Majesté. 23. Oktober 1756,
in: Recueil des Instructions données aux Ambassadeurs et Ministres de France depuis les Trai¬
tés de Westphalie jusqu’à la Révolution Française. XXVIII Etats allemands. Tome troisième.
L’Electorat de Trêves, avec une introduction et des notes par Georges Livet, Paris 1966,
S. 189—203, hier S. 192.
74