la géographie appliquée“ erworben habe46. Nichts sollte nach seinem Willen bei der
Kolonisation Kanadas der unkalkulierbaren Vielfalt individueller Interessen und Ini¬
tiativen und damit dem „hazard“ überlassen bleiben. Er forderte ein lückenloses Sy¬
stem obrigkeitlicher Reglementierung, eine wirksame Einengung der Bewegungs- und
Handlungsfreiheit der Siedler, die im Interesse zeitgerechter Erfüllung vorgegebener
Planziele den Anweisungen einer ihrerseits auf Direktiven Vaubans verpflichteten, von
Ingenieuren zu leitenden militärischen Kommandostelle zu gehorchen hatten, gleich
Soldaten in einer rangierten Schlacht oder im Festungskrieg, d. h. als Rädchen einer in
allen Bewegungsabläufen programmierten Maschinerie. Kanada sollte eben nicht eine
colonie de hazard, sondern eine colonie de raison werden47, eine Schöpfung obrigkeit¬
licher Anordnungen und kollektiver Arbeitsleistung, konzipiert zunächst, unter Nut¬
zung aller als Ergebnis einer detaillierten statistischen Landesaufnahme vorliegenden
empirischen Daten, auf dem Reißbrett, realisiert von einer militärischen Befehlszen¬
trale aus, ein Werk der „Ingenieurkunst“ bzw. einer dem Geist von Vaubans Corps du
Génie verpflichteten militärischen Führungskunst, da geplant und ausgeführt mit
derselben Gründlichkeit und mathematisch-technischen Präzision, wie in seinem
Traité de l’attaque des places für Vorbereitung und Durchführung eines Angriffs
gegen eine Festung gefordert. Kennzeichnend für sein nahezu unbegrenztes Vertrauen
in die Möglichkeiten einer solchen „Ingenieurkunst“ ist die Bemerkung, mit der er alle
gegen sein Projekt einer Verbindung von Lorenz-Strom und Mississippi vorgebrach¬
ten Bedenken zurückgewiesen hat: Il ny a rien au-dessus de la correction des hom¬
mes48, eine prometheische, fast schon hybride anmutende Äußerung, aus der, wie aus
dieser Denkschrift insgesamt spricht l’optimisme, la fougue et l’éternelle jeunesse des
constructeurs-nés49.
Zeitgenossen wie Nachwelt beeindruckten Breite und Vielfalt der Interessen und
Aktivitäten Vaubans, nämlich seine Leistungen als Festungsbaumeister, Städtebezwin¬
ger, Begründer des Corps du Génie und technischer Spezialtruppen, als zu seiner Zeit
unübertroffener Meister der Taktik des Artilleriekampfes im Festungskrieg, als Pionier
der Militärtechnik im umfassenden Sinne der Bedeutung dieses Begriffes in dieser
Epoche der Kriegskunst sowie als ein erst Jahrzehnte später initiierte Neuerungen
antizipierender Heeresreformer, und zwar mit seinem Programm einer Neuordnung
des Militärersatzwesens auf der Basis einer als Ehrendienst zu deklarierenden allge¬
meinen Wehrpflicht50, ferner mit gleichermaßen progressiven wie zweckmäßigen
46 Vaubans Denkschrift zur Besiedlung und Erschließung Kanadas Moyen de rétablir nos colo¬
nies de l’Amérique et de les accroître en peu de temps von 1699 gedr. in: Vauban I,
S. 413—440. Vgl. dazu Michel Philipponeau, Le maréchal de Vauban. Un ancêtre de la
géographie appliquée au Canada, in: Mélanges géographiques canadiens, offerts à Raoul
Blanchard, Quebec 1959, S. 101, J. Gottmann, Vauban and modem geography, in: Ge¬
ographical Review 1944, S. 120 ff. sowie vom Vf., Zwei Denkschriften Vaubans zur Kolonial-
und Außenpolitik Frankreichs aus den Jahren 1699 und 1700, in: HZ 195 (1962), S. 297 ff.
und gleichfalls vom Vf., Kolonisation als militärische Unternehmung — Vaubans Projekt zur
Erschließung und Besiedlung Kanadas, in: CIHM, Acta No 4, Ottawa 1979, S. 214—225.
47 Vauban I, S. 414.
48 a.a.O., S. 439.
49 Rebelliau, S. 355.
50 Hierzu Vaubans Mémoire au Roi sur la levée et l’enrôlement des soldats von 1697, gedr. in:
Vauban I, S. 276 ff., bes. S. 822.
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