frühzeitig mit der Burg als eigener Denkmalgattung beschäftigte6 und daneben auch
die Stadtbefestigung des Mittelalters eingehend berücksichtigte, nicht aber die nach
den Gesetzen der Ballistik mathematisch konzipierte Erdbefestigung des 16.—19.
Jahrhunderts mit ihren Kasematten, Kasernen und ähnlichen schlichten Nutzbauten.
Schwierigkeiten gab es lediglich bei Architektenpersönlichkeiten wie etwa Sammicheli
in Verona oder Balthasar Neumann in Würzburg, bei denen sich der fortifikatorische
und militärische Anteil an ihrem Werk schlecht aus dem künstlerischen Gesamtbild
aussondern läßt. Der Horror der Romantiker, denen unser Fach die ersten entschei¬
denden Anstöße verdankt, vor dem Donner der Kanonen und den uniformierten Mili¬
tärmassen des Absolutismus erstickte jeden Versuch, im Wehrbau der frühen Neuzeit
irgendwelche Schönheitswerte zu entdecken, die überhandnehmende Technik und eine
Dominanz mathematischen Denkens hatte diese vertrieben. Die soeben skizzierte
Abwertung im ästhetischen Bereich hat dazu geführt, daß die Kunstgeschichte in ihrer
wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Festungsstadt erst noch in den Anfängen
steckt7. Das mußte dazu führen, daß man Fortifikationsanlagen und zugehörige
Nutzbauten im Oeuvre unserer Barockbaumeister meist übersprungen oder in den
Anhang verwiesen hat. Falls überhaupt wurden die betreffenden Denkmäler nur bei¬
läufig oder diskursiv behandelt. Das galt desgleichen von den Anführungen in der
topographischen Handbuchliteratur. Gerade hier aber würde, den Kategorien eines
Walter Gropius zufolge, der bauliche Formwillen in seiner nackten Gestalt am ehesten
zutagetreten müssen. Hinzu kommen Möglichkeiten zu Aussagen über die soziale
Funktion der Architektur wie sie am elitären Einzelwerk nicht gegeben sind. Die Be¬
schäftigung mit der Baukunst der Moderne hat also ganz offensichtlich zum Ver¬
ständnis der mehrere Jahrhunderte zurückliegenden Epoche im Wehrbau hingeführt,
die man so lange ausgeklammert hatte. Dieser wissenschaftsgeschichtlich relevante
Vorgang, daß die Affinität für eine zeitgenössische Kunstrichtung vom geschmackli¬
chen her prädisponiert für ein vertieftes Verstehen einer verwandten historischen
Gattung oder Stilperiode, ist zwar auch auf ähnlichen Gebieten beobachtet worden
(z. B. Meier-Graefe), läßt sich aber wohl kaum anderswo so gut in seinen Prämissen
sichtbar machen.
Gropius hatte 1922, nach seiner Rückkehr von einer Studienreise zu Industriebau¬
ten der USA, erklärt, daß sich eine Erneuerung der gesamten Baukunst am Nutzbau
zu orientieren habe. Diese Erklärung gewann in Kürze die Größenordnung eines
Manifests, dessen Auswirkungen sich allenthalben in der Architektur unserer Tage
nacherleben lassen. Gleichwohl dauerte es noch ein halbes Jahrhundert, bis sich auch
die Kunstwissenschaft bereit fand, diese grundsätzlichen Einsichten nicht nur zur In¬
terpretation der Architektur der Moderne zu vereinnahmen, sondern sie sinngemäß
auf die drei vorhergehenden Jahrhunderte zu übertragen. Hiermit verknüpft ist aller¬
dings eine andere Grundsatzfrage: war man willig, die im Geist eines tiefgreifenden
6 Werner Meyer, Die Entwicklung der Burgenforschung nach Piper bis zur Gegenwart, in:
Otto Piper, Burgenkunde, Reprint der 3. Auflage von 1912, Frankfurt 1967, S. 647-656.
7 Nach den ersten Vorstößen auf diesem Gebiet (Colonel Normand, Le goût artistique de
Vauban, Revue du Génie Militaire 1925; Robert Danis, Vauban architecte, Revue d’architec¬
ture 1934) werden ganz neue Zeichen gesetzt durch Philippe Truttmann, Fortification,
ArchitecUrre et Urbanisme aux XVIIe et XVIIIe siècles, Essai sur l’oeuvre artistique et techni¬
que des ingénieurs militaires sous Louis XIV et Louis XV, Thionville 1976.
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