Gerhard Eimer
Die frühneuzeitliche Festungsstadt im Licht der Kunstgeschichte
Goethes Mutter schrieb am 15. Januar 1808 an ihren Sohn aus Frankfurt1: 'Wenn
Du einmal wieder her kommen solltest, würdest Du die Außenseite Deiner Vaterstadt
nicht mehr kennen. Um die gantze Stadt vom Bockenheimer biß zum Allerheiligen-
Thor gibts einen Parck, ein Bosket ... In einem weiteren Brief kommt sie auf das
Thema zurück: und alle sind erstaunt über die Schönheit in Franckfurth, besonders
aber außer der Stadt — die alten Wälle sind abgetragen, die alten Thore eingerißen
und die gantze Stadt ein Parck, man glaubt es sei Feerey — man weiß gar nicht mehr
wie es sonst ausgesehen hat — unsere alten Perücken hätten so waß biß an jüngsten
Tag nicht zu wegen gebracht. Bey dem kleinsten Sonnenblick sind die Menschen ohne
Zahl vor den Thoren: Christen — Judden pele-mele alles Durcheinander in der
schönsten Ordnung ... und das ist und wird alles ohne Unkosten gemacht. Die
Plätze der alten Stadt-Mauren (und) Wälle werden an hisige Bürger verkauft — da
nimbt der eine viel der andere weniger, jeder baut nach Flerzens Lust — der eine
macht einen Bleichgarten, der andere einen Garten, das sieht scharmant aus — und
hirmit Basta!
Gewiß, es gibt schon frühere Beispiele für derartig durchgeführte „Entfestigungen“,
so etwa Mannheim, aber mit Frankfurt war an zentraler Stelle ein Signal gegeben, das
allerdings nicht ohne politischen Druck zustandegekommen war. Die Schleifung der
Festungswerke von Saarlouis bildet 1889 eines der Schlußlichter dieser Bewegung, von
der man sich in den deutschsprachigen Ländern unerhört viel versprach: Frau Rat
Goethe erwähnt die zwanglos auf diesem Wege zustandekommende egalitäre GeselL
Schaft, namentlich die Judenemanzipation, die in Frankfurt durch Auflösung des
berüchtigten Ghettos besonders in die Augen fiel. Zunächst war der gewaltige Bevöl¬
kerungszuwachs noch nicht das treibende Inzitament — Frau Goethe sagt deutlich
genug, daß die neugewonnenen Grundstücke zunächst als Gärten angelegt wurden.
Überhaupt ist sehr die Frage zu stellen, ob die beiden in den Lehrbüchern mit ermü¬
dender Ausschließlichkeit angeführten Triebkräfte Bevölkerungszuwachs und Indu¬
strialisierung die einzigen und die ausschlaggebenden für dieses für Mitteleuropa im
19. Jahrhundert so kennzeichnende und durchgängige urbane Phänomen gewesen
sind2. Nur eins dürfte feststehen: die von Anbeginn genutzte Möglichkeit zur Schaf¬
fung eines Grüngürtels, — der leider nur selten auch auf das Glacisgelände ausge¬
dehnt wurde — kam stets nach den Idealen des englischen Parks zustande.
Durch schlingernde Umrisse, nierenförmige Seen, gekrümmte Wege und eine male¬
rische Bepflanzung versuchte man die strengen Umrisse der Bastionärbefestigung zu
verwischen, die sich heute oft nur noch unklar im Stadtplan abzeichnet. Vor allem
1 J. W. Goethe, Gedenkausgabe der Werke. Briefe und Gespräche, Ergänzungsband. Briefe aus
dem Elternhaus, Zürich 1960, S. 976 und 883 f. Vgl. zu dem Problem im allgemeinen Wolf¬
gang Kantzow, Sozialgeschichte der deutschen Städte und ihres Boden- und Baurechts bis
1918, Frankfurt am Main 1918.
2 Namentlich Leonardo Benevolo, Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts,
München (dtv) 1978, Bd. I, S. 175-242, Bd. II, S. 41-69.
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