staatlichen Institutionen erreichen zu können. Der Theorie einer staatsvermittelten So¬
zialrevolte entsprach die primäre Anwendung politischer Kampfmittel. Die Partei be¬
saß demnach Vorrang, die Gewerkschaft Zutreiberfunktion128.
3.7 Die Auswirkungen des Kulturkampfes
Im Gegensatz zur liberalen Mehrheit des Bürgertums im Saarrevier gehörten Hansen
und Oesterling noch während des preußischen Verfassungsstreits der konservativen
Partei an1. Selbst auf dem Höhepunkt des Kulturkampfes schrieb Hansen an Stumm:
,,Es würde mir angenehm sein, wenn dereinst nach wiederhergestelltem Frieden zwi¬
schen Staat und Kirche ... die Dinge und Verhältnisse es gestatteten, daß wir, wie frü¬
her, aufs neue Zusammengehen könnten“1.
Doch dazu sollte es nicht mehr kommen, denn die Ereignisse der Jahre 1866 und 1871
hatten die Parteienlandschaft grundlegend verändert: Auch an der Saar gab die Mehr¬
heit der Liberalen die Opposition gegen Bismarck auf und unterwarf sich seiner Füh¬
rung; die Spaltung in einen nationalliberal-gouvernementalen und einen fortschrittlich¬
oppositionellen Flügel war die Folge3. An Bismarcks Revolution von oben zerbrach
auch die Einheit der Konservativen; unter der Führung Stumms und Kardorffs for¬
mierten sich die Freikonservativen als ,,Partei Bismarck sans phrase“4. Gleichzeitig
gliederten sich die Katholiken aus dem Parteienspektrum aus und konstituierten sich
als Zentrum3. Für sie stand die Frage ihrer Position als konfessionelle Minderheit in ei¬
nem überwiegend evangelischen, klein-deutschen Reich mit protestantischem Kaiser¬
haus und liberaler Parlamentsmehrheit zur Debatte. Während sich die bisher opposi¬
tionellen Liberalen mit dem neuen Nationalstaat arrangierten, gingen die bisher loyalen
Katholiken auf Distanz. Der ,,Feudalisierung“ des Bürgertums6 entsprach eine Kon-
fessionalisierung der Politik.
Die Kulturkampfgesetze in den Jahren nach 1871 verschärften diesen in der Struktur
des neuen Kaiserreiches angelegten Konflikt. Der Spielraum der Kirche wurde juri¬
stisch immer mehr eingeengt, doch die Geistlichen scheuten sich nicht vor Gesetzes¬
übertretungen. Auch der Trierer Bischof Matthias Eberhard mußte 9 Monate Haft ver¬
büßen, das Trierer Priesterseminar wurde geschlossen. Von den 816 aktiven Geistli¬
128 Vgl. Scharrer, S. 7 — 15. Zwing, S. 85.
1 Hellwig: Stumm, S. 96.
2 Hansen an Stumm vom 22. 3. 1875, zit. ebd., S. 109.
3 Vgl. Heinrich August Winkler: Bürgerliche Emanzipation und nationale Einigung. Die
Entstehung des Nationalliberalismus in Preußen, in: Helmut Böhme (Hrsg.): Probleme der
Reichsgründungszeit 1848 — 1879 (= NWB 26), Köln - Berlin 1968, S. 226 — 242. Karl-Georg
Fab er : Realpolitik als Ideologie. Die Bedeutung des Jahres 1866 für das politische Denken
in Deutschland, in: HZ 203 (1966), S. 1—45. Speziell zum Saarrevier vgl. Bellot, S.
120-123.
4 Vgl. Kurd V i e b i g : Zur Geschichte der Parteien Deutschlands. Die Entstehung und Entwik-
kelung der Reichs- und Freikonservativen Partei, Weimar 1920, S. 12 — 34.
5 Vgl. To r m i n , S. 62 — 65, spez. für die Saar Bellot, S. 123 — 128.
6 Vgl. Friedrich Zunkel: Industriebürgertum in Westdeutschland, in: Hans-Ulrich Wehler
(Hrsg.): Moderne deutsche Sozialgeschichte (= NWB 10), 2. Aufl., Köln —Berlin 1968, S.
309 — 341. Hansjoachim Henning: Das westdeutsche Bürgertum in der Epoche der Hoch¬
industrialisierung 1860 — 1914. Soziales Verhalten und soziale Strukturen, Teil I (= Histori¬
sche Forschungen im Auftrag der Historischen Kommission der Akademie der Wissenschaf¬
ten und der Literatur, Bd. VI), Wiesbaden 1972. Toni Pierenkemper : Die westfälischen
Schwerindustriellen 1852-1913. Soziale Struktur und unternehmerischer Erfolg (= Kritische
Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 36), Göttingen 1979.
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