Auch die Reichstagser-satzwahl im Wahlkreis Ottweiler-St. Wendel-Meisenheim am
20. März 188942 brachte den Sozialdemokraten an der Saar keinen Durchbruch: Sie
stellten Hugo Woldersky (1857— 1918) auf, einen aus Stettin stammenden Tischler, der
nach seiner Teilnahme am Kopenhagener Kongreß aus Berlin ausgewiesen worden war
und seitdem von Köln aus die illegale Einfuhr des ,,Socialdemokrat“ leitete43. Auf
Woldersky entfielen nur 37 Stimmen. Die Pakete mit 2000 Wahlaufrufen44 wurden poli¬
zeilich beschlagnahmt45. Lediglich in Spiesen, Elversberg, Ober- und Niederlinx¬
weiler kamen einige Exemplare zur Verbreitung, die jedoch meist direkt den Pfarrern
abgeliefert wurden46. Der Verteiler, der 1827 in Ibbenbüren geborene Hugo Dullens,
hatte sich schon in den Jahren zuvor als Kolporteur legaler sozialdemokratischer Zei¬
tungen in den Saarstädten bei den Behörden verhaßt gemacht, galt bei Landrat von
Voss als ,,greiser Strolch“ und stand bereits mehrfach am Rande der Ausweisung47.
Dullens war eine Mischung aus mehrfach verurteiltem Landstreicher, politischem Agi¬
tator und schrulligem Kauz, der sogar dem Saarbrücker Landrat das Patent einer
Schiffsschraube verkaufen wollte — eine Figur, auf die sich alle politischen, sozialen
und kulturellen Vorurteile ihrer Zeit vereinigen ließen. Unmittelbar nach der Reichs¬
tagsersatzwahl beantragte zur Nedden erneut Dullens’ Ausweisung gemäß § 22 des So¬
zialistengesetzes48 49. Regierungspräsident von Pommer-Esche hielt dies jedoch nicht für
zweckmäßig, ,,da es kaum möglich sein wird, an einem anderen Orte den p. Dullens
einer so aufmerksamen Beobachtung zu unterwerfen— eine bezeichnende Argu¬
mentation, die auf die gesellschaftliche Isolation der Sozialdemokraten im Saarrevier
hinweist. Kurze Zeit später wurde Dullens wegen Beihilfe zu einem betrügerischen
Bankrott zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt50 52; anschließend zog er zu seiner Schwester
nach St. Ingbert31.
Ebenso wie Dullens sollte auch Carl Borromäus Schneidt noch eine Rolle in der Berg¬
arbeiterbewegung der 90er Jahre spielen: Schneidt wurde 1854 in Rußhütte geboren
und studierte Philologie in Bonn und Heidelberg. Er arbeitete dann als Privatlehrer in
Saarbrücken und Linz am Rhein, mußte diesen Beruf jedoch im Sommer 1877 aufge¬
ben, nachdem bekannt geworden war, daß er Korrespondenzen für die sozialdemokra¬
tische Presse schrieb. Über Beziehungen zu Liebknecht und Auer32 wurde er Redak¬
teur der ,,Bergischen Volksstimme“ in Barmen und schloß sich dem anarchistischen
42 Vgl. Bellot, S. 178. Wahlergebnis in SBZ vom 21. 3. 1889 (Nr. 68).
43 Bers, S. 174 f. B e r s / Kl öc k e r, S. 393.
44 Exemplar LHAK 442/6694, 101 f.
45 LR Tenge/OTW an RP vom 17. 3. 1889, ebd., 99 f. BM Ludwig/NK an SA/SB vom 13. 3.
1889, Abschrift SASB, Best. BMA SB, Nr. 1754. Aktennotiz PK Brasch/NK vom 20. 3. 1889,
SANK, 15 F III. EW vom 31. 3. 1889 (Nr. 13). Verbotsverfügung im Saarbrücker Kreisblatt
vom 8. 4. 1889 (Nr. 14).
46 LR Tenge/OTW an RP vom 18. 3. 1889, LHAK 442/6694, 108-110. BM Müller/WND an
LR vom 19. 3. 1889, SAWND, Abt. C 2/56.
47 LR Voß/SB an RP vom 4. 7. 1887, LHAK 442/6695, 547 — 550. Zitat S. 548. Dto. vom 23.
10. und 27. 12. 1887, ebd., 607 — 610, 695 — 699. Personalbericht Hugo Dullens, LHAK 442/
6694, 125. Vernehmungsprotokoll vom 19. 3. 1889, ebd., 117 f.
48 LR zur Nedden/SB an RP vom 24. 3. 1889, LHAK 442/6694, 143 — 151.
49 RP Pommer-Esche/Trier an LR/SB vom 29. 3. 1889, ebd., 179 — 182, Zitat S. 179.
50 LR zur Nedden/SB an RP vom 13. 7. 1889, ebd., 267 f. SZ vom 4. 7. 1889 (Nr. 153).
51 LR zur Nedden/SB an RP vom 14. 7. 1890, LHAK 442/6694, 553 — 556. RP Pommer-Esche/
Trier an LR/SB vom 23. 7. 1890, ebd., 563.
52 Schneidt/Linz an Liebknecht vom 22. 7. 1877, IISG, Nachlaß Wilhelm Liebknecht, Nr. 295.
75