„Da größere Arbeitskämpfe nur dann subjektiv sinnvoll erscheinen, wenn die Aussicht,
dem Industriearbeiterdasein entrinnen zu können, für nicht mehr realistisch erachtet
wird“x9, kann die geringe Protesthäufigkeit nicht überraschen. Die Mehrzahl der Berg¬
arbeiter im Saarrevier fand im bäuerlichen Kleinbesitz und dem dörflichen Sippenzu¬
sammenhalt einen Rückhalt in Krisenzeiten. Der ,,Rückzug in die familiale Privat-
heit“2Q gewann hierin seine ökonomisch-politische Relevanz. Die Notwendigkeit eines
gewerkschaftlichen Zusammenschlußes, der diese kollektive Schutzfunktion übernom¬
men hätte, konnte so individuell unterlaufen werden. Seit 1889 schlug dieses Faktum in
sein Gegenteil um: Dezentralisierung und partielle Selbstversorgung boten die Mög¬
lichkeit, längere Arbeitskämpfe durchzustehen.
Erst bei einem Umzug ins eigentliche Industriegebiet wurde ein proletarisches Lebens¬
schicksal unausweichlich, die Aussicht auf Eigentumserwerb schwand. Der Versuch,
die finanzschwachen Zuwanderer in Kolonien am Ortsrand abzuschieben'1, vermittel¬
te früh das Gefühl sozialen Abstiegs''. Handelte es sich anfangs noch um ,,eine Masse
lose nebeneinander wohnender Familien“12, wie der Dudweiler Pfarrer Brandt 1863 die
Kolonie Herrensohr beschrieb, so erzwang die Zerstörung des ländlichen Sippenzu¬
sammenhalts mit der Zeit doch Nachbarschaftshilfe und damit den Beginn kommuni¬
kativer Beziehungen. Wenn auch hier ein neues Sozialgefüge entstand, die Verbindung
zum Land riß allein schon aus familiären Gründen niemals ab. „Das Festhalten an
agrarischen Lehensgewohnheiten gewährte ihnen jenes Gefühl von Geborgenheit, das
notwendig war, um ihre Lage aushalten zu können“19 24, zur wirtschaftlich notwendigen
Mischökonomie trat die rückwärts gewandte Identitätssuche.
Die strukturelle Desolidarisierung am Arbeitsplatz fand somit ihre Ergänzung in der
strukturellen Spannung innerhalb der Bergarbeiterschaft, die eine grundlegende Diffe¬
renzierung des Sozialcharakters mit sich brachte. Die Resistenz des ständischen Kos¬
mos und bäuerliche Reminiszenzen verhinderten vor 1889 einen Übergang vom Stan¬
des- zum Klassenbewußtsein.
19 Puls, S. 178.
20 Ebd., S. 206.
21 Vgl. Brandt, S. 22 -29. Weyand, S. 130 f. Blickle, S. 308 f. Fehn: Grundzüge, S.
254-258. Heribert Besch/Theodor Kleiner: Kommunalpolitische Probleme der In¬
dustriegemeinden an der Saar im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Ge¬
meinden Dudweiler und Elversberg, in: ZGS 26 (1978), S. 118-131.
22 Bereits bei der erwähnten Konferenz im Mai 1858 beschloß man darum, „den korporativen
Geist der bergmännischen Gemeinden durch angemessene Knappschaftsordnungen und Orts¬
statuten nach dem Vorbilde älterer Bergmannsgemeinden zu wecken, zu beleben und zu un¬
terhalten, insbesondere den bergmännischen Gruß, die bergmännische Tracht, die berg¬
männische Musik, die bergmännischen Beerdigungen und das bergmännische laute Gebet
einzuführen“, zit. bei Fehn: Grundzüge, S. 257. Dennoch erblickte der Bgmfr. vom 2. 1.
1876 (Nr. 1) in den Koloniebewohnern „ein schlimmes Proletariat, welches einen nachtheili¬
gen Einfluß auf die ganze Belegschaft auszuüben droht“. Derartige Bemerkungen sollte man
jedoch nicht überschätzen. Sie scheinen einerseits typisch für die Revolutionsängste der Zeit,
andererseits für die Ausnutzung bestehender Vorurteile auf der Grundlage der realen Besitz¬
differenzierung. Sie können also selbst Transportmittel für ständische Verhaltensnormen bil¬
den und sind nicht unbedingt der Beweis vergeblicher Internalisierungsversuche. Auch eine
übergestülpte Zwangskultur kann sich zum Standesbewußtsein entwickeln, wenn sie kollek¬
tive Identität zu garantieren scheint.
23 Rudolf Saarn : Die industrielle und siedlungsgeographische Entwicklung Dudweilers im 18.
und 19. Jahrhundert, in: ZGS 22 (1974), S. 95 —125, Zitat S. 124.
24 Puls, S. 201.
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