Gleichzeitig wurden die Baurayons für Prämienhäuser ausgedehnt120. Beide Maßnah¬
men gaben den bäuerlichen Rückzugsstrategien neuen Raum. Die erweiterte Tagesver¬
bindung zwischen Arbeitsplatz und Wohnort schloß Lücken zwischen Wunsch- und
Erfahrungswelt, das Reich der Notwendigkeit und das der Freiheit rückten näher zu¬
sammen.
Die Zahl der Haus- und Landeigentümer stagnierte zwar in dieser Phase und hinkte
hinter dem Belegschaftswachstum her, der wachsende Kleinviehbesitz schien die priva-
ten Hoffungen
jedoch zu realisieren121
(1875 = 100):
Jahr
Belegschaft
Haus¬
eigentümer
Land¬
eigentümer
1895
31 074 132
13 102 140
9 012 125
1900
41 406 177
15 369 164
9 984 139
1905
46 489 198
18 223 194
10 372 144
Jahr
Rindvieh
Ziegen
Schweine
1895
9 000 141
7 443 174
8 508 370
1900
10 716 168
10 626 210
10 134 440
1905
10 498 165
11 826 234
8 534 371
Der 1882 eröffnete französische Ostkanal bedingte eine stärker werdende Konkurrenz
der belgischen Kohle; die Saarkohle mußte in wachsendem Maße auf dem inländischen
Markt abgesetzt werden122, auf dem das Ruhrgebiet spätestens seit 1910 zum eigentli¬
chen Preisbildner avancierte123. Das im gesamten 19. Jahrhundert gewahrte Regional¬
monopol verschwand damit. Gleichzeitig ging die Monopolstellung auf dem Arbeits¬
markt verloren: Seit 1907 wanderten etwa 4000 Bergarbeiter in das expandierende Lo¬
thringer Revier ab124. ,,Sollte sich dieser in der letzten Hochkonjunktur schon hervor¬
tretende Nachteil hei der nächsten Aufwärtsbewegung zu einer Abwanderung in ande¬
re Bezirke, besonders in das benachbarte Lothringen, steigern, so wird der Staatsberg¬
bau seine Sonderstellung aufgeben und mit den Löhnen und der Schichtenzahl auch
wieder mehr nach allgemeinem Brauche verfahren müssen, wenn er nicht ganz auf
wirtschaftliche Erfolge verzichten will“125, prognostizierte Berginspektor Herbig 1910.
Erst dieser tendenzielle Verlust der Monopolsituation schuf normale kapitalistische
Verhältnisse und damit die Chance einer gewerkschaftlichen Bergarbeiterbewegung.
120 Vgl. E. Müller, S. 85 f. Gronerad, S. 39.
121 Zusammengestellt und berechnet nach Arbeiterbelegschaft 1895, 1900, 1905, jeweils S. 3.
Vgl. Herbig: Wirtschaftsrechnungen, S. 454. Pauli, S. 26.
122 Zörner, S. 20, 22 f., 26-29.
123 Ebd., S. 53 f. Linden, S. 102.
124 B e n tz, S. 142.
125 Herbig: Arbeiterersatz, S. 1401.
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