Das Entstehen der Bergarbeiterbewegung im Saarrevier — die Ruhe vor dem Sturm in
den 70er und 80er Jahren, die Streikperiode 1889—1893, die Apathie der 90er Jahre —
wurde bisher noch wenig erforscht. Berginspektor Müllers 1904 erschienenes Buch lie¬
fert wertvolles statistisches Material, doch die Arbeiterbewegung wird hier lediglich in
ihren äußerlichen Vorgängen geschildert und naturgemäß mit Kategorien des Soziali¬
stengesetzes beurteilt“. Dasselbe gilt für die im gleichen Jahr geschriebene Arbeit des
Regierungsassessors Alexander von Brandt, der zwar die Monatsberichte des Saarbrük-
ker Landrats auswertet, analytisch jedoch auf dem Niveau dieser Quellen verbleibt.
,,Streikfieber“ war für ihn die Ursache dieser ,, tollen Jahre der Bergarbeiter an der
Saar“, ,,Planlosigkeit und Unvernunft“ angeblich die Kennzeichen der Bewegung2 3 4.
Mit Peter Kiefers 1912 erschienener Dissertation ,,Die Organisationsbestrebungen der
Saarbergleute“ begann die akademische Beschäftigung mit dem Thema. Doch auch
diese Arbeit zeichnet sich in weiten Passagen durch Voreingenommenheit und Unge¬
nauigkeit aus: Alle Vorgänge werden unter Kiefers Erkenntnisziel — im staatlichen
Saarbergbau seien Gewerkschaften unnötig — subsumiert, die Zusammenhänge der re¬
gionalen Bewegung mit Vorgängen auf nationaler Ebene fehlen, die Analyse differie¬
render Entwicklungstendenzen und Übergänge sucht man vergebens. Der Versuch, ein
stromlinienförmiges Geschichtsbild zu konstruieren, scheitert an den realen Wider¬
sprüchen. Während Kiefer einerseits die Zufriedenheit der Bergarbeiter mit dem pa¬
triarchalischen System herausstellt, muß er andererseits eine urplötzliche Anfälligkeit
für sozialdemokratisches Gedankengut konstatieren; um das Dilemma zu lösen, erklärt
er den Saarbergmann einfach zum ,,psychologischen Rätsel“A. Ähnliche Vorbehalte gel¬
ten auch für die ebenfalls kurz vor dem Ersten Weltkrieg entstandenen Arbeiten der
Gewerkschaftsführer Otto Hue5, Heinrich Imbusch6 und Johann Leimpeters7: Die Tä¬
tigkeit des Rechtsschutzvereins diente ihnen als Vehikel für die Polemik zwischen den
verschiedenen Bergarbeiterverbänden, Geschichte sollte die eigene Existenz legitimie¬
ren. Aus diesem Abgrenzungszwang heraus resultierte die Gefahr der Faktenunter¬
schlagung und selektiver Wahrnehmung. Ständig wird beispielsweise die politische In¬
strumentalisierung der Gewerkschaften durch die eigene Partei geleugnet und gleich¬
zeitig implizit entschuldigt. Trotz dieser eindeutig parteiischen Darstellung sind die
drei genannten Arbeiten auch heute noch unverzichtbar, da sich die Verfasser auf die
gesamte zeitgenössische Presse, den internen Gewerkschaftsschriftwechsel sowie Ge¬
spräche mit den beteiligten Akteuren stützen konnten — Quellengruppen, die heute
nicht mehr zur Verfügung stehen.
Nach dem Ersten Weltkrieg brach diese Forschungstradition ab. Im Rahmen der von
Georg Wilhelm Santes Saarforschungsgemeinschaft angeregten Dissertationen erschie¬
nen zwar einige grundlegende Arbeiten zu sozial- und kulturhistorischen Problemen
des Saargebiets, die Geschichte der frühen Arbeiterbewegung geriet jedoch weitgehend
2 E. Müller, S. 47-67.
3 Brandt, S. 54 —92. Zitate S. 54 f.
4 Kiefer: Organisationsbestrebungen, S. 19 — 70. ZitatS. 124.
5 H u e : Bergarbeiter, Bd. 2, S. 255 — 258, 376 — 379, 397 — 404, 437 — 447. Zu Hue vgl. Niko¬
laus Osterroth: Otto Hue. Sein Leben und Wirken, Bochum 1922. Johann Mugrauer:
Otto Hue (1868 — 1922) (= Rheinisch-Westfalische Wirtschaftsbiographien, Bd. 1), Münster
1931.
6 Imbusch, S, 362 — 402. Zu Imbusch vgl. Dieter Marc Schneider : Saarpolitik und Exil
1933 — 1955, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 25 (1977), S. 494, Fn 87.
7 Leimpeters, S. 3 — 35. Zu Leimpeters vgl. (Limberts), S. 124 f.
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