Im übrigen Parteienspektrum hingegen begriff man den Mai-Streik 1889 weitgehend als
,,unmittelbare Staats- und Nationalgefahr“3 5 und machte ihn zum Ausgangspunkt ei¬
ner ausgedehnten Debatte. Verschärfte Repressionen oder Reformpolitik, Rückkehr
zum Patriarchalismus mit seiner Kombination von Fürsorge- und Verbotstendenzen
oder aber volle Herstellung des freien Arbeitsvertrags, Negation von Interessenunter¬
schieden oder Schaffung von Schlichtungsinstanzen zur Kanalisierung legitimer Kon¬
flikte — so lauteten im Grunde die Alternativen.
Im Lager der Kartellparteien und des ,, Vereins für bergbauliche Interessen “ schob man
den Christlich-Sozialen die Schuld am Streik zu, die ,,nicht müde geworden (seien), in
ihrer Presse und in Versammlungen den Klassenhaß zu nähren und die unteren Stände
gegen die Besitzenden zu verhetzen“*. Darum sei ,,die Linie, wo der christliche Sozia¬
lismus aufhört und die Sozialdemokratie beginnt, in der That schwer zu ziehen“5. Es
entsprach dieser Beurteilung rein exogener Ursachen, daß die Dortmunder Handels¬
kammer die ,,Bestrafung des Massenstreikbruchs“ — also des Streiks — forderte, und
die Essener Handelskammer die ,,ganz unverantwortliche Haltung“ der Regierung im
Streik kritisierte6. Angesichts des staatlichen Grubenbesitzes im Saarrevier mußte Ri¬
chard Vopelius (1843 — 1911 )7, der seit 1876 den Wahlkreis Saarbrücken-Ottweiler-
St. Wendel im preußischen Abgeordnetenhaus vertrat, moderate Töne anschlagen.
Aber auch er stellte die Dasbachpresse als Streikursache hin und bezeichnete die Ent¬
fernung der „unsauberen Elemente“ als einzigen Weg ,,zu friedlichen Verhältnissen
auf unseren Gruben“8.
Auch weite Teile der sozialpolitischen Publizistik waren lediglich fähig, den Massen-
ausstand in den Kategorien des Sozialistengesetzes zu erfassen. Der anonyme Verfasser
der Broschüre ,, Wohin steuern wir? Sozialpolitik oder Humanitätsduselei?“ forderte
die Einrichtung überseeischer Sträflingskolonien für kontraktbrüchige Arbeiter: ,,Man
deportire die faulen Subjekte und die immer Unzufriedenen sammt den Agitatoren auf
3 Albert Sc h äf f le : Trennung von Staat und Volkswirtschaft aus Anlaß des jüngsten Arbeiter-
ausstandes im Kohlenbergbau, in: Zeitschrift für Staatswissenschaft 45 (1889), H. 4, S.
591 -732, Zitat S. 593.
4 Gustav N a t o r p : Der Ausstand der Bergarbeiter im niederrheinisch-westfälischen Industrie¬
bezirk, Essen 1889, S. 80; Natorp war von 1864 bis 1891 Geschäftsführer des ,, Vereins für
bergbauliche Interessen“.
5 Ebd., S. 81. Glückauf/Essen vom 3. 7. 1889 (Nr. 53). Vgl. Petition der HK Dortmund an Bis¬
marck vom 21. 6. 1889, abgedruckt bei Köllmann: Bergarbeiterstreik, Nr. 133, S.
187— 193, Seeber/Wittwer, S. 425. Ähnlich Kleine und Hammacher am 3. bzw. 4. De¬
zember 1889 im Reichstag, RT-Protokolie, 7. LP, 5. Sess. 1889/90, Bd. 2, S. 648 — 654,
665 — 670, Vgl. W. Hahn, S. 40 — 42. In der Broschüre ,,Wohin steuern wir?“, S. 8, meinte
der anonym gebliebene ,,alte Gewerke“ mit gewagter Logik: ,,Gerade in dem Bemühen, die
Endziele versteckt zu halten, zeigte sich der sozialdemokratische Einfluß“. Gleichzeitig mobi¬
lisierte er das ,,Erbfeind“-Syndrom, indem er es als , fraglos“ bezeichnete, ,,daß Frankreich
seine Hände im Spiele hatte“ (S. 17). (Karl Arnold): Bergarbeiter — Streiks
1889— 1905 — 1912. Ein Wort der Aufklärung an die Bergarbeiter, Essen o. J., S. 2, leitete es
noch 1912 aus dem angeblichen Voluntarismus der Sozialdemokratie ab, daß ,,das Jahr 1889
ein Streikjahr ersten Ranges sein mußte“. Vgl. Der Bergarbeiterausstand des Jahres 1889 Im
Abgeordnetenhause. Reden der Abgeordneten Dr. Schultz — Bochum, Schmieding — Dort¬
mund, Dr. Ritter - Waldenburg, Berger - Witten, Essen 1890.
6 Bismarcks Sturz, S. 288. Wittwer, S. 558. ,,Die Herren Grubenbesitzer wollten dem so¬
zialen Königtum‘ zeigen, was eine Harke ist, und sie zeigen es ihm. Die Rebellion der Gruben¬
besitzer ist für das Gottesgnadentum beinahe ein noch schwererer Schlag, als der Riesenstreik
der Arbeiter es war“, kommentierte der Socialdemokrat vom 13. 7. 1 889 (Nr. 28).
7 Vgl. Jaeger, S. 328. Vopelius war von 1904 bis 1908 Vorsitzender des ,,Zentralverbandes
Deutscher Industrieller“.
8 LT-Protokolle, 17. LP, 2. Sess. 1889/90, Bd. 2, S. 678 — 681, Zitat S. 681.
117