Bismarck und Wilhelm II. waren sich zwar einig in der Ablehnung des Belagerungszu¬
standes, jedoch aus völlig unterschiedlichen Motiven: Ersterer beabsichtigte, der ,,libe¬
ralen Bourgeoisie“ angesichts der bevorstehenden Verhandlungen über eine Verlänge¬
rung des Sozialistengesetzes eine Lektion zu erteilen; ,,dieselbe gehe immer von der
Voraussetzung aus, unter der Sozialdemokratie leide die Regierung mehr als der Bür¬
ger, und wenn die Bewegung ernsthaft werde, unterdrücke die Regierung sie doch nöti¬
genfalls mit Gewalt, vorbeugende Gesetze seien also gar nicht nötig“39, Darum wollte
er den Streik als Privatfehde behandelt wissen, ,,den Brand in sich ausbrennen lasse(n),
statt ihn mit Gewalt zu ersticken“40 41. Wilhelm II. hingegen — befangen in seinem fride-
rizianischen Traum vom ,,roi des gueux“4X, der „die Seele des deutschen Arbeiters“ ge¬
winnen könne42, gleichzeitig verängstigt, ,,(s)eine ersten Regierungsjahre mit dem Blut
(s)einer eigenen Landeskinder beflecken“ und dadurch Sympathieeinbußen erleiden zu
müssen43 — befahl am 12. Mai im Staatsministerium, „der Sache ein Ende zu machen
und die Arbeitgeber zu veranlassen, Lohnkonzessionen zu machen“4*; „die Staatsre¬
gierung bilde hier eine Art Oberschiedsgericht“45. Daraufhin stimmten die Minister zö¬
gernd der Audienz für die Bergarbeiterdeputation zu, verlangten aber, daß „auch die
Vertreter der anderen Partei“ gehört werden müßten46.
Am 14. Mai 1889 empfing Wilhelm II. die drei Delegierten. Schröder forderte, „was
wir von unseren Vätern ererbt haben, nämlich eine achtstündige Schicht. Auf die Lohn¬
erhöhung legen wir nicht Wert. Die Arbeitgeber müssen mit uns in Unterhandlungen
treten“. Die Antwort des Monarchen fiel keineswegs freundlich aus. Er wies in schar¬
fem Ton auf den Kontraktbruch und die Ausschreitungen gegen Streikbrecher hin und
drohte damit, „die volle Gewalt, die Mir zusteht — und die ist eine große — zur An¬
wendung (zu) bringen“, falls „sich sozialdemokratische Tendenzen in die Bewegung
mischen“ sollten47. „Als wir die Abendzeitungen lasen“, erinnerte sich Siegel, „waren
wir erstaunt, über die Rede des Kaisers einen Bericht zu lesen, in dem seine Worte:
,Und ich werde alles über den Haufen schießen lassen, was sich mir widersetzt' fehl¬
39 Protokoll der Staatsministerialsitzung vom 12. 5. 1889, abgedruckt bei Grebe, S, 90 — 92,
Zitat S. 91.
40 Protokoll der Staatsministerialsitzung vom 25. 5. 1889, abgedruckt ebd., S. 96 f., Zitat S. 97.
Vgl. Wilhelm S c h ü ß 1 e r : Bismarcks Sturz, Leipzig 1921, S. 33 — 35. W. Hahn, S. 53 — 57.
Bismarcks Sturz, S. 284 — 286. Am 20. Mai äußerte Bismarck, ,,äaß er es anfänglich gern gese¬
hen hätte, wenn die Arbeiterbewegung einen tempestiven Charakter annähme“, Hammacher
stellte sich daraufhin die Frage, „ob B. die Veranlassung zum Staatsstreich (Beseitigung des all¬
gemeinen Wahlrechts) wünscht?“, Seeber/Wittwer, S. 441.
41 Wilhelm II.: Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878 - 1918, Leipzig — Berlin 1920,
S. 29.
42 Ebd., S. 33. Vgl. Philipp zuEulenburg-Hertefeld : Aus fünfzig Jahren, Berlin 1923, S.
241. Zu den ersten Positionskämpfen bei Wilhelms II. Thronbesteigung vgl. Bismarcks Sturz,
S. 220-225.
43 Wilhelm II. : Ereignisse und Gestalten, S. 32. Zu Wilhelms II. Vorstellungen vom „sozia¬
len Monarchen“ vgl. Elisabeth Fehrenbach: Wandlungen des deutschen Kaisergedankens
1871 -1918 (= Studien zur Geschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. 1), München-Wien 1969,
S. 187-193.
44 Robert Freiherr Lucius von Baühausen: Bismarck — Erinnerungen, 4.Aufl., Stuttgart-
Berlin 1921, S. 497.
45 Grebe, S. 92.
46 Immediatbericht des Staatsministeriums vom 13. 5. 1889, ebd., S. 92 — 95, Zitat S. 94. Vgl. W.
Hahn, S. 49 f. Bismarcks Sturz, S. 270 f. Seeber/Wittwer, S. 427 f.
47 Glückauf/Essen vom 18. 5. 1889 (Nr. 40). Tremonia vom 18. 5. 1889 (Nr. 113), abgedruckt
bei K öllm a n n : Bergarbeiterstreik, Nr. 63, S. 106 — 108. Pen zle r, S. 53 f. Kaiser Wilhelm
II. als Redner, S. 22 f. B öh mer t, S. 141 f.
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