1. Einleitung
1.1. Der Ausgangspunkt der Untersuchung und die Themenstellung
1.1.1. Forschungsstand und Überlieferungssituation
Jacob Grimm begründete die Weistumsforschung durch die von ihm veranlaßte
Sammlung der bäuerlichen Rechtsquellen aus dem deutschsprachigen Raum1.
Er machte damit diese Quellengattung erstmals der Forschung zugänglich, ver¬
hinderte aber gleichzeitig durch seine Auffassung vom hohen Alter der Rechts¬
sätze und ihrer Verwurzelung in der Volksseele für längere Zeit eine objektivere
Beurteilung der Weistümer. Vielleicht noch gefährlicher wurde, daß auf Grund
seiner Autorität zunächst die ländlichen Rechtsquellen des deutschen Sprach¬
gebietes als Einheit angesehen wurden, als unerschöpfliche Fundgrube für Rechts¬
altertümer, und man daher aus den Augen verlor, daß es sich um eine höchst
differenzierte Quellengattung handelt, die man nicht ohne grobe Verfälschungen
aus den lokalen und historischen Zusammenhängen lösen kann.
Ohne daß die theoretische Durchdringung zunächst über Grimm hinausführte,
etablierte sich die Weistumsforschung als Sonderbereich der Rechtsgeschichte
und zunehmend auch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte2.
Erst nach dem ersten Weltkrieg kam es zu einer grundlegend neuen Sicht.
Entscheidend wurde die von Alfons Dopsch begründete „Wiener Schule“, die
die These vom hohen Alter der Weistümer ablehnte und sie als Quellen
beschrieb, die auf Grund von grundherrschaftlichen Interessen niedergeschrie¬
ben worden waren3. Diese These wurde zwar als zu einseitig abgelehnt, allge¬
mein war jedoch von nun an in der Weistumsforschung akzeptiert, daß die
Niederschriften besonders aus früherer Zeit auf Initiative der Grundherren
zurückzuführen seien. Daß das nicht die einzige Entstehungsursache war, wies
Anfang der Fünfziger Jahre Hermann Baltl anhand von österreichischen Quellen
nach, die auch die Dopsch-Schule bevorzugt verwendet hatte4.
1 Weisthümer, gesammelt von Jacob Grimm, 7 Bde., Göttingen 1840—1878, als erstes
erschien Bd. 2, in Zukunft zitiert Grimm.
2 vgl. die Zusammenfassung bei Karl Heinz Burmeister, Die Vorarlberger Lands¬
bräuche und ihr Standort in der Weistumsforschung (jur. Diss. Tübingen) Zürich
1970, 2—4.
3 besonders wichtig war Erna Patzelt, Entstehung und Charakter der Weistümer in
Österreich. Beiträge zur Geschichte der Grundherrschaft, Urbarialreform und Bauern¬
schutzgesetzgebung vor Maria Theresia (Budapest 1924), ferner sind zu nennen Her¬
mann Wiessner, Sachinhalt und wirtschaftliche Bedeutung der Weistümer im deut¬
schen Kulturgebiet (Veröffentlichungen des Seminars für Wirtschafts- und Kultur¬
geschichte an der Universität Wien, hg. von Alfons Dopsch. Band 9/10) (Baden-Wien
1934) und die Dissertation von Arno Günther, Sind die Weistümer genossenschaft¬
lich entstanden oder von der Herrschaft oktroyiert? (jur. Diss. Erlangen 1936).
4 Hermann Baltl, Die österreichischen Weistümer (MIÖG 59/1951, 365—410; 61/1953,
38—78).
17