I. Der Wüstungsbegriff
1. Das Wüstungsschema
Otto Schlüter forderte 1903 in seinem Werk über die Siedlungen im nord¬
östlichen Thüringen, daß bei der Behandlung von Wüstungen nur solche
Siedlungen berücksichtigt werden sollten, „bei denen es einigermaßen aus¬
gemacht ist, daß sie wirklich auf ein altes Dorf und nicht bloß auf ein ein¬
zelnes Haus, eine Burg oder eine Rodung ohne Niederlassung zurück¬
gehen"1. Damit wäre eine Wüstung eine Ortschaft, die vom Erdboden ver¬
schwunden, die wüst geworden, die verlassen oder aufgelassen ist. Die
frühen Definitionen in der wissenschaftlichen Literatur beschäftigten sich
lediglich mit verschwundenen Dörfern, und zwar mit der Einschränkung,
daß sie total verödet waren. Damit beschränkte man sich auf die verlas¬
senen Hauptwohnplätze des Mittelalters und ließ die Nebenwohnplätze als
„etwas Accessorisches, worin ja auch der Grund für ihre Benennung liegt",
bewußt beiseite2. Doch schon H. Beschorner wies 1904 in diesem Zusammen¬
hang auf die Schwierigkeit einer genauen Abgrenzung zwischen Einzel¬
siedlungen und kleinsten Gruppensiedlungen hin. Auch erkannte er, daß
das äußerliche, für die Wüstung geforderte Kennzeichen, das „vom Erd¬
boden verschwunden sein", zu eng sei und ohne weiteres subjektiv aufge¬
faßt werden könne3. Dennoch zählte er zu den „Wüstungen im engeren Sinn"
nur die abgegangenen Dörfer. Zu den „Wüstungen im weiteren Sinn" rech¬
nete er die aufgelassenen Einzelsiedlungen: einzelne Gehöfte, Mühlen,
Einzelkirchen, Burgen etc.4. Er schlug vor, nur die Orte, die vom Erdboden
verschwunden sind, in die Wüstungsverzeichnisse aufzunehmen; die wüst¬
gewordenen Einzelsiedlungen sollten dagegen höchstens mit kleinerem
Druck oder besonderen Zeichen (Vorgesetzte Sternchen, Kreuze usw.) Berück¬
sichtigung finden. Neuzeitliche Wüstungen, eingemeindete, aufgegangene
und umbenannte Orte, sollten völlig außer Betracht bleiben, bzw. nur einen
1 O. Schlüter, Die Siedlungen im nordöstlichen Thüringen, 1903, S. 203. Be¬
sprechung der Arbeit von A. Grund, in: Ztschr. d. Ges. f. Erdkunde, Berlin
1903, S. 738—741. Die gleiche Auffassung vertritt auch G. Geldern-Crispen-
dorf, Kulturgeographie des Frankenwaldes, (= Beihefte zu Mitt. d. Sächs.-
Thür. Vereins für Erdkunde zu Halle, Nr. 1) Halle 1930. (Ein Schüler von
Schlüter).
2 O. Schlüter, Siedlungen, S. 122.
3 H. Beschorner, Wüstungsverzeichnisse, Dtsch. Gesch, Bll. Bd. 6, Gotha 1904,
bs. S. 3. Ders., Das Wüstungsverzeichnis, in: Denkschrift über die Herstellung
eines Historischen Ortsverzeichnisses für das Königreich Sachsen, Dresden 1903,
S. 15—33. Ders., Historische Geographie Deutschlands, in: Kende, Handbuch
der geogr. Wissenschaft, Berlin 1916, Teil 1, S. 344—369.
4 H. Beschorner, Wüstungsverzeichnisse, S. 3 f. und ders., Wüstungsverzeich¬
nis, S. 16 f.
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